Gefangenenaustausch geglückt – was folgt nun?
Moskau und Kiew haben am Samstag je 35 Gefangene ausgetauscht. Dies befeuert nun Spekulationen über mögliche nächste Schritte einer russisch-ukrainischen Annäherung. Laut Medienberichten könnte es noch im September zu einem Gipfeltreffen im Normandie-Format (Frankreich, Deutschland, Russland, Ukraine) kommen, um den Friedensprozess für die Ukraine neu zu beleben. Europas Presse analysiert die Hintergründe.
Kriegstreiber müssen erst gezähmt werden
Ein Friedensprozess wäre auf beiden Seiten vielen Widerständen ausgesetzt, warnt Radio Kommersant FM:
„Jeder weitere Tag dieser trostlosen Konfrontation lässt das Gefühl wachsen, dieser Krieg sei etwas Fremdartiges, mit dem man schon lange hätte Schluss machen müssen. Zumal sich Kiew wie Moskau verbal auf Friedensverhandlungen nach der Steinmeier-Formel [im Normandie-Format] hinbewegen. Aber sind sie auch prinzipiell bereit, auf diesem 'unabhängigen' Territorium freie Wahlen unter OSZE-Kontrolle abzuhalten? Und ginge das überhaupt? Wie reagiert die nationalpatriotische Elite der Ukraine auf die Notwendigkeit, für einen Donbass-Sonderstatus zu votieren? Was macht die russische 'Kriegspartei', wenn es auf eine Schließung unserer Grenze zu den Gebieten Donezk und Lugansk hinausläuft?“
Westeuropa leidet an Gedächtnisschwund
Sorgenvoll betrachtet das Portal Diena.lt den Wunsch Westeuropas nach einem Dialog mit Moskau:
„Es ist beunruhigend, wie der Gefangenenaustausch von manchen Ländern Westeuropas, insbesondere Frankreich, bewertet wird. Der Außenminister Frankreichs hat schon darüber gesprochen, dass die Zeit gekommen ist, die Spannung zwischen dem Westen und Russland zu verringern. ... Tatsächlich scheint es aber nicht Zeit für Tauwetter zu sein, sondern für eine an unsere von Amnesie befallenen Verbündeten gerichtete Erinnerung, dass die in Russland immer noch gehaltenen Kriegsgefangenen nur die Spitze des Eisbergs sind. Drei Viertel des Problems liegen in der Ostukraine und auf der Krim.“
Der Donbass ist dem Kreml zu teuer
Russland will Einfluss, ohne dafür zu zahlen, meint wPolityce.pl:
„Russland will den Donbass nicht mehr finanzieren, er kostet zu viel. Der Kreml zieht es vor, die Last den Ukrainern auf die Schultern zu legen und gleichzeitig die Kontrolle über das besetzte Gebiet zu behalten. Daher stammt auch die Idee, dass die Region an die Ukraine zurückgehen, aber einen Sonderstatus erhalten soll, eine weitgehende Autonomie. Kiew will dem nicht zustimmen. Doch Putin versucht, europäische Hauptstädte für seinen Plan zu gewinnen, insbesondere Berlin und Paris, damit diese Druck auf Präsident Selenskyi ausüben.“
Macrons Avancen fruchten
Macron spielt eine entscheidende Rolle in der Annäherung zwischen Moskau und Kiew, analysiert Auslandexperte Paolo Valentino in Corriere della Sera:
„Der französische Präsident begrüßte Vladimir Putin nicht nur am Vorabend des G7-Gipfels in [seiner Sommerresidenz] Brégançon, sondern lud ihn auch erneut zum nächsten Friedensforum im November ein. Außerdem versprach er ihm, im kommenden Mai anlässlich der Feierlichkeiten des 75. Jahrestags des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg auf dem Roten Platz zu sein. Frankreich war auch einer der überzeugendsten Befürworter der Rückkehr Russlands in den Europarat. Putin wusste dies zu schätzen - wie der Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Kiew zeigt. Er ebnete den Weg für einen neuen Versuch zur Wiederbelebung des Friedensprozesses in der Ukraine.“
Nun muss Kiew mit den Separatisten verhandeln
Die kremltreue Iswestija fordert nun von Kiew, direkte Gespräche mit den beiden Separatistenrepubliken im Donbass aufzunehmen:
„Der Erfolg dieser ersten Etappe öffnet nicht nur den Weg für einen weiteren Gefangenenaustausch nach der Formel 'alle gegen alle'. Er erlaubt auch die praktische Umsetzung des Minsker 'Maßnahmenpakets', um die lang erwartete Lösung des innerstaatlichen Konflikts im Donbass zu erreichen. Doch in dieser Formulierung liegt das schwer überwindbare Hindernis für einen gefestigten und dauerhaften Frieden in der Ukraine: Kiew weigert sich weiterhin stur, das Offensichtliche anzuerkennen: den innerstaatlichen Charakter des Konflikts im Südosten. Dabei besteht Russland im Einklang mit den europäischen Teilnehmern des Normandie-Formats auf direkten Verhandlungen zwischen den Führungen der Ukraine und des Donbass.“
Moskaus indirektes Schuldbekenntnis
Dass beim Gefangenenaustausch auch ein Verdächtiger für den Abschuss von Passagierflug MH17 freigelassen wurde, lässt tief blicken, findet De Volkskrant:
„Im Prinzip läuft die Forderung von Moskau, dass Wolodymyr Zemach an Russland ausgeliefert werden musste, auf ein indirektes Schuldbekenntnis für die Katastrophe von MH17 hinaus. Denn warum sollte Russland Zemach wieder 'zurück' haben wollen, obwohl er noch nicht einmal russischer Bürger ist, sondern Ukrainer? Die Antwort liegt auf der Hand: Putin hat große Angst, dass Zemach vor einem niederländischen Richter reden müsste. Denn schon jetzt ist die Beweislast sehr groß.“
Selenskyj hat schlecht verhandelt
Kiew hat einen hohen Preis gezahlt, stellt der Deutschlandfunk fest:
„Das betrifft vor allem eine Person: Wolodymyr Zemach. Der ukrainische Geheimdienst hat ihn erst im Juni in einer Spezialoperation auf dem Separatistengebiet festnehmen können. Zemach gilt als Verdächtiger in einem wichtigen Strafprozess. Er soll für den Abschuss einer Passagiermaschine über der Ostukraine im Juli 2014 mitverantwortlich sein. ... Kritisch wird auch der Fall der Seeleute gesehen. Nach dem Urteil des UN-Seegerichtshofs drohten Russland internationale Sanktionen. Es war für Moskau also sehr günstig, gerade jetzt diese Gefangenen loszuwerden. … Niemand wird bestreiten, dass die Befreiung von Gefangenen ein Erfolg ist für die Ukraine. Aber fest steht auch: Der neue ukrainische Präsident Selenskyj hat schlecht verhandelt.“
Eine mutige Entscheidung
In einem Kurzkommentar begrüßt Michail Brodskij, Chefredakteur des Internetportals Obosrewatel, den Schritt:
„Meine Gedanken zum gestrigen Austausch: Erstens: Der Austausch musste gemacht werden. Vielen Dank an Selenskyj für seine mutige Entscheidung (ein Leben retten heißt die ganze Welt retten). Zweitens: Der Austausch ist ungleich (wir haben Mörder und Schurken freigelassen und bekamen einfache und unschuldige Menschen zurück). Drittens: Was kümmern mich die Niederlande. Viertens: Wahrscheinlich haben sie uns reingelegt, aber was soll's.“
Putins erster Schritt zum Ziel
Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy, sieht den Austausch in einem Gespräch auf seinem Sender als ein Schlüsselmoment an:
„Putin geht es um die schrittweise Aufhebung der Sanktionen, die Russland wegen des Donbass auferlegt wurden. ... Diese wird möglich, wenn der mit dem Minsk-Prozess verzahnte Normandie-Prozess angeschoben wird. Doch dazu mussten erst die Gefangenen freikommen. Das war eine Bedingung Macrons beim Treffen mit Putin am 19. August. ... Jetzt, nachdem das geschehen ist, kann man ein Treffen der Staatschefs der vier Länder Russland, Ukraine, Frankreich und Deutschland noch im September in Paris erwarten. … Und das könnte durchaus ein historisches Ereignis werden.“
Zynismus ohne politische Bedeutung
Vor einer Überbewertung des Ereignisses warnt La Croix:
„Ein Gefangenenaustausch ist ein Tauschgeschäft voller Zynismus und mit nur geringer politischer Bedeutung. Der am Samstag zwischen Kiew und Moskau vorgenommene Austausch bildet da keine Ausnahme. Die Rückkehr von politischen Gefangenen und anderen Inhaftierten, die Opfer von Willkür geworden waren, in ihre Heimat ist selbstverständlich Anlass zur Freude. Und für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist sie ein Erfolg. Es ist jedoch zu früh, darin einen Schritt in Richtung einer politischen Lösung für den Konflikt zu sehen, der die Ukraine im Donbass mit Separatisten konfrontiert, die vom mächtigen Nachbarn unterstützt werden.“