Auschwitz: Was tun gegen das Vergessen?
Vor 75 Jahren erreichte die Rote Armee das deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Am Montag in der Gedenkstätte in Polen und bereits letzte Woche in Israel fanden große Gedenkfeiern statt. Europas Medien beschäftigt der Gedanke, wie die Erinnerung an die Schoah wach gehalten werden kann – auch im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen.
Die ultimative menschliche Verrohung
Wir müssen immer daran denken, dass Auschwitz den ultimativen Punkt der menschlichen Brutalität symbolisiert, schreibt Avgi:
„Nicht, dass es in der Geschichte der menschlichen Zivilisation keine anderen Gräueltaten gab. Aber die Nazis haben die Technologie benutzt, um Industrien für die Vernichtung von Menschen zu bauen. Sie errichteten Verbrennungsöfen, Rohrleitungsnetze, berechneten Querschnitte und Pumpen, um Menschen mit möglichst hoher Produktivität zu töten. Eine halbe Stunde, nachdem eine Gruppe getötet worden war, waren die Öfen bereit, die nächste zu empfangen. Das ist der Grund, weshalb man Auschwitz mit nichts anderem vergleichen kann.“
Gedenket der Anfänge
Radio Kommersant FM findet, gerade aus heutiger Sicht sollte man die Erinnerung an den Holocaust weniger mit dessen Ende als mit seinem Anfang verknüpfen:
„Etwa mit der Konferenz von Évian 1938, bei der 32 Staaten am Genfer See zusammenkamen. ... Man debattierte, wie man das Problem der jüdischen Flüchtlinge lösen könne. Letztlich stimmte nur die Dominikanische Republik zu, mehr Juden aufzunehmen, die anderen zogen es vor, nichts zu tun. Diese Vogel-Strauß-Politik spielte den Nazis massiv in die Hände. Hitler konnte sich überzeugen, dass das Schicksal der Juden niemanden außer ihn selbst interessiert, worauf er mit der Planung der 'Endlösung' begann. Wenn wir wollen, dass sich solche Schrecken nicht wiederholen, sollte man nicht nur der freudigen Momente der Befreiung gedenken, sondern auch der schändlichen Jahre der Gleichgültigkeit.“
Mahnen und Erinnern reichen nicht aus
Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Margaritis Schinas, appelliert in Diário de Noticias daran, dass in Europa und darüber hinaus noch viel gegen Antisemitismus getan werden muss:
„Wir müssen unsere Kinder unterrichten, unsere Bürger informieren, unsere Polizisten zum Holocaust und aktuellen Formen des Antisemitismus schulen. ... Schließlich müssen wir erkennen, dass Antisemitismus nicht nur ein europäisches Problem ist. Er erfordert eine globale Reaktion, und zu diesem Zweck muss die EU mit allen Partnern - Ländern und internationalen Organisationen - zusammenarbeiten, die bereit sind, die Menschenrechte, unsere Werte der Gleichheit, des Pluralismus, der Vielfalt und der Religionsfreiheit zu verteidigen.“
Das Böse ist Teil der menschlichen Natur
Frans Timmermans, Vize-Vorsitzender der EU Kommission, erklärt in Libération, warum das Gedenken so wichtig ist:
„Wenn wir uns ebenso der Größe wie der Perversität des menschlichen Geists bewusst sind, verstehen wir erst wirklich die menschliche Natur und haben vielleicht eine Chance, unsere Dämonen zum Schweigen zu bringen. ... Der Holocaust ist ein einmaliges Ereignis in der europäischen Geschichte. Die Mechanismen, die ihn möglich gemacht haben, sind aber absolut nicht einzigartig, sie sind Teil der menschlichen Natur. Die Menschheit, und besonders die Europäer, haben die permanente Verpflichtung, sich dessen bewusst zu sein und das Bewusstsein dieser Dualität an künftige Generationen zu vermitteln.“
Empathie nicht verlernen
Die Erinnerung an die Schoah muss jederzeit wach gehalten werden, mahnt die Neue Zürcher Zeitung:
„Man muss nicht selber in Auschwitz gewesen sein, um das Entsetzen und die Trauer zu lernen. Was man über das Schlimmste aller Menschheitsverbrechen erfahren kann, ist überall verfügbar. Jeder denkende und mitfühlende Mensch wird früher oder später darauf stossen. Es braucht Wissen und Konzentration, aber vor allem Empathie und Phantasie - und in ihrer Pflege und ihrer Bewahrung ist es, wo die Gesellschaft ansetzen muss, um moralisch wach und politisch klug zu bleiben. So sehr uns die digitale Welt mit ihrem Universum des Vorformatierten und Vorverdauten das Leben erleichtert, so sehr lässt sie den Muskel der Einfühlung in andere und der eigenen Vorstellungskraft erschlaffen.“
Vorbote des demokratischen Verfalls
Antisemitismus wird viel zu lasch entgegengetreten, klagt die frühere spanische Außenministerin Ana de Palacio in der Tageszeitung Die Presse:
„Erwähnungen von Antisemitismus werden oft mit einem Achselzucken abgetan oder sogar auf zynische Art und Weise rationalisiert. Empörung oder Solidarität mangelt es an Tiefe, und Diskussionen werden von Auseinandersetzungen über die israelische - oder sogar die US-amerikanische - Politik überlagert. ... Zwei Gründe für diese schwache Reaktion verdienen besondere Aufmerksamkeit. Der erste ist das Verblassen der Erinnerung. Die Geschichte des Antisemitismus in Europa ist fast so alt wie Europa selbst. ... Der zweite Grund ist die allgemeine Aushöhlung demokratischer Prinzipien und Institutionen. ... Wenn wir uns nicht darauf einigen können, dass Antisemitismus in unseren Gesellschaften keinen Platz hat, worauf können wir uns dann einigen?“
Unwürdiges Fingerhakeln über den Gräbern
Völlig unbegreiflich findet Šimon Krbec vom Studienzentrum des Genozids Terezín (Theresienstadt) in Mladá fronta dnes die Zerstrittenheit über das Gedenken an die Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren:
„Die politischen Vertreter von Ländern, deren Bürger während des Holocausts starben, beschuldigen sich gegenseitig, die Geschichte zu fälschen, der Kollaboration mit den Nazis und am Ende gar eines Anteils am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In Europa macht sich eine gefährliche Tendenz der selektiven Wahrnehmung der Geschichte breit. ... Das Theater darüber, wer wen einlädt oder nicht einlädt, ist unwürdig. Wer sonst muss darüber regelrechte Freude empfinden, als der, der sich wünscht, dass der Holocaust ein für allemal vergessen wird?“
Polen hat eine Chance verpasst
Polens Präsident Duda blieb der Veranstaltung fern, weil er keine Rede halten durfte. Der Standard kritisiert diese Entscheidung:
„In Warschau wehrt man sich - unter Strafandrohung - gegen Vorwürfe, die Polen eine Mitschuld an der Judenverfolgung während der deutschen Besatzung geben. In Israel sieht man darin grundsätzlichen Unwillen, sich mit Antisemitismus in den eigenen Reihen zu beschäftigen. Wladimir Putin stieß kürzlich ins selbe Horn und bezeichnete Polens Vorkriegsbotschafter in Berlin als 'antisemitisches Schwein', Warschau wiederum gibt Moskau mit Verweis auf den Hitler-Stalin-Pakt Mitschuld am Zweiten Weltkrieg. Dass Polens Präsident Andrzej Duda vor diesem Hintergrund nicht zur Gedenkfeier in Yad Vashem gekommen ist, [...] ist eine verpasste Chance. Er hätte zeigen können, dass angesichts von Millionen Holocaust-Toten auch in der Ruhe diplomatische Kraft liegt.“
Wichtige Stimme der Opferseite fehlt
Der Journalist Witali Portnikow kritisiert in Nowoje Wremja, dass beim Welt-Holocaust-Forum zwar Putin, nicht jedoch der ukrainische Präsident Selenskyj reden durfte:
„Von den jüdischen Opfern des Holocausts wurden die meisten in der Ukraine, in Polen, in Weißrussland und in Litauen ausgerottet. Und nicht in Russland. ... Selenskyj hat das gleiche moralische Recht, bei diesen Feierlichkeiten zu sprechen wie Putin, als Person sogar ein höheres, ist er doch ein Nachkomme der Opfer und nicht nur der Befreier. ... Wenn wir ehrlich über die Geschichte sprechen wollen, müssen der ukrainische und der polnische Präsident auf derselben Bühne sprechen können, auf der auch der russische Präsident sprechen wird.“
Putins Geschichtsdarstellung ist unwürdig
Die Geschichte des Holocausts steht nicht zur Debatte, bekräftigt The Times:
„Niemand bestreitet die Opfer der Sowjetunion nach der Invasion von 1941 oder das Heldentum der Roten Armee, das zur Befreiung der meisten Todeslager führte. Und genauso wenig sollten Russen die Opfer des polnischen Volkes bestreiten. ... Drei Millionen polnische Juden wurden im Holocaust ermordet. Mehr als zwei Millionen nichtjüdische polnische Zivilisten und Soldaten starben. ... So wie es falsch von der polnischen Regierung war, jede Behauptung, Polen trage eine Mitschuld am Holocaust, für gesetzeswidrig zu erklären, ist es falsch von Putin, Polen eine Mitschuld am Kriegsbeginn zu geben. Die Geschichte dieser Zeit ist komplex, aber eindeutig und nicht kontrovers. So zu tun, als wäre das anders, macht der Erinnerung an die Toten Schande.“
Reden fern der Realität
Die nun wieder zu hörenden mahnenden Politikerreden wollen nicht recht zum Erstarken des Rechtsextremismus in vielen Ländern passen, meint Večer:
„Dieser Tage, da man den 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau begeht, sagen alle Politiker, so etwas dürfe nie wieder geschehen. Doch das sind nur Worte für die Gedenkfeiern: In Wirklichkeit reden sie ganz anders. Weltweit, vor allem in Europa, wachsen rechtsextreme, nennen wir sie ruhig faschistische Bewegungen und Parteien, die völlig legitim an die Macht gelangen. Die Juden wurden als Hauptobjekt des Rassismus bloß durch Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten, meist arabischer oder muslimischer Herkunft, ersetzt.“