Anschlag in Hanau: Driftet Deutschland nach rechts?
Nachdem ein rechtsextremer Attentäter vergangene Woche in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund, seine Mutter und sich selbst erschossen hat, ist Deutschland weiterhin schockiert über die rassistisch motivierte Tat. Europas Presse beobachtet eine grundlegende Verschiebung im politischen Klima und sieht neben dem Täter auch Politik, Medien und Gesellschaft in der Verantwortung.
Jeder muss sich ehrlich prüfen
Bild-Chefredakteur Julian Reichelt fragt sich, ob Deutschland um diese Terroropfer genauso trauert, wie wenn die Opfer deutsche Namen getragen hätten:
„[L]iegt über unserem Land dasselbe Gefühl von Bedrückung wie nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz? ... Laufen uns wirklich Tränen übers Gesicht wie nach den Amokläufen von Erfurt oder Winnenden? Sind Entsetzen, Scham und Selbstzweifel bei uns so groß, wie sie sein sollten in einem Land, das bis heute den größten Massenmord aufarbeitet, den Rassisten in der Weltgeschichte je begangen haben? ... Ich habe da leider meine Zweifel. ... Nach einem Terroranschlag wie in Hanau ist jeder in Deutschland verpflichtet, sich zu fragen: Trauere ich um Bilal, wie ich um Benedikt oder Britta getrauert hätte? Eine ehrliche Antwort darauf sind wir alle unserem Land schuldig.“
Populisten bereiten der Gewalt den Boden
Parteien wie die AfD haben dazu beigetragen, das politische Klima zu vergiften und Bluttaten wie jene in Hanau möglich zu machen, klagt Financial Times:
„Hintergrund der wachsenden Gewalt ist die Aushöhlung der liberalen Ordnung in den westlichen Gesellschaften und der damit einhergehende Aufstieg nationalistischer und rechtspopulistischer Bewegungen. Sie versuchen, vor allem mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu punkten. Diese politischen Kräfte sind heute in den Parlamenten der meisten Demokratien vertreten. Sie nutzen die Redefreiheit aus - nicht um Gewalt als solche zu befürworten, sondern um Vorurteile zu schüren und Mainstream-Politiker als multikulturalistische Verräter an der weißen, christlichen Zivilisation zu verunglimpfen. Auf diese Weise tragen sie zu einem Klima bei, in dem einsame Extremisten Vorwände für ihre Morde finden.“
Deutsche Medien schützen rechte Terroristen
Deutschlands Medien tragen durch ihre verharmlosende Berichterstattung eine Mitschuld am Hanauer Attentat, betont Daily Sabah:
„Die impliziten Bemühungen der deutschen Medien, solche Verbrecher zu schützen, fördern den rechtsextremen Terrorismus wirksam. Ein kurzer Blick auf lokale Medienberichte über das Massaker in Hanau zeigt, dass der Nachname des Angreifers bis auf den Anfangsbuchstaben ausgelassen wurde. Hätte ein Terrorist mit nahöstlichem Hintergrund die Gräueltaten in Hanau begangen, hätte die Welt seinen Namen sofort erfahren. ... Die meisten Artikel beschreiben Tobias Rathjen als einen 'Rassisten' und 'Rechtsextremen' - anstatt als Terroristen. ... Wir haben die Verantwortung, Terroristen als Terroristen zu bezeichnen. Solange sich die Haltung europäischer Medien nicht ändert, werden in Zukunft sicher ähnliche Massaker geschehen.“
Tiefer Kratzer im positiven Selbstbild
Deutschland war nie so freundlich und liberal, wie es gerne glaubt, erklärt die taz:
„Diese Erzählung war schon immer zu glatt, zu nett, zu sehr von Selbstlob getränkt. Jetzt ist sie ein Grund, warum es so schwierig ist zu begreifen, was offenkundig ist: Es gibt einen rechtsterroristischen Angriff auf die Republik, eine blutige Spur, die von den Morden des NSU über den Mord an Walter Lübcke und den Anschlag auf die Synagoge in Halle bis zu den Toten in Hanau reicht. Dieser rechte Terror ist ein tiefer Kratzer im netten Bild der Bundesrepublik als Hort von Vernunft und Zivilität. Weil die rechten Morde dazu nicht passen, fällt es enorm schwer, die Angriffe so ernst zu nehmen, wie sie sind.“
Etwas ist faul in Deutschland
Auch der Berlin-Korrespondent von Corriere della Sera, Paolo Valentino, warnt davor, nach drei rechtsextremen Anschlägen in nur neun Monaten weiter von Einzelfällen zu sprechen:
„Alle wurden durch dasselbe ideologische Delirium erzeugt: Hass auf das Fremde, Verachtung für die Nicht-Weißen, Antisemitismus, den falschen Mythos vom 'Tod einer Nation', die unheilvolle Legende vom Bevölkerungsaustausch, die angeblich existenzielle Bedrohung der deutschen Identität. In Deutschland ist etwas faul, wenn Aktionen des rassistischen Umsturzes aus der Kloake der geheimen Erzählung, überschwemmt von unheilvollen, dunklen Web- und Verschwörungstheorien, zur gewalttätigen und tödlichen Aktion werden. Es ist etwas faul, weil die Einzelgänger nicht mehr allein sind, sondern in einem immer beunruhigenderen Umfeld agieren. Der Schatten des rechtsextremen Terrorismus breitet sich über das ganze Land aus.“
Mörderische Ideologie
Das Massaker in Hanau erinnert uns daran, dass Worten Taten folgen, schreibt To Vima:
„Es geht nicht um Meinungen. Es handelt sich nicht einmal nur um 'Hassreden'. Es geht um Gewalt. Die rechtsextreme Ideologie, insbesondere der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, legitimiert Gewalt nicht nur, sondern treibt sie an und verstärkt sie. Nicht alle Rechten sind gewalttätig, aber je mehr Anklang ihre autoritären und reaktionären Ideen finden, desto wahrscheinlicher ist es, dass einer sich entscheidet, diese Ideen in die Praxis umzusetzen. Egal, ob wir über Organisationen oder über 'einsame Wölfe' sprechen, das Wesentliche ist: Wir sprechen über eine Ideologie, die zur Waffe eines Mörders werden kann.“
Rechtsextreme konsequent isolieren
Parteipolitische Konsequenzen fordert El Periódico de Catalunya:
„Die Anschläge fallen zeitlich damit zusammen, dass die Konservativen in Thüringen die bisher eingehaltene Distanz zu den Rechtsextremen in Frage gestellt haben. ... All dieses politische Taktieren bestätigt die Warnung des Vizekanzlers Olaf Scholz, wenn er sagt: 'Unsere politischen Debatten dürfen sich nicht davor herumdrücken, dass es 75 Jahre nach Ende der NS-Diktatur wieder rechten Terror in Deutschland gibt.' Parteiquerelen können das Erstarken der AfD - eine Ausländerhass schürende fremdenfeindliche Partei - nur beschleunigen. Angesichts dieser Gefahr müssen die großen deutschen Parteien zur traditionellen Abschottung zurückkehren und die Rechtsextremen isolieren, während die Sicherheitskräfte die Gewalttäter verfolgen.“
Verborgener Schrecken im Internet
Pravda weist daraufhin, dass sich Rechte zunehmend am heimischen Rechner radikalisieren:
„In jüngerer Zeit wurde der Ausdruck 'einsamer Wolf' für Terroristen eher im Kontext islamistischer Radikaler verwendet. Die Zunahme rechtsextremer Terroranschläge legt jedoch nahe, dass die Definition auf ein anderes ideologisches Spektrum ausgedehnt werden muss. In der Tat ähnelt sich der Radikalisierungsprozess von Islamisten und Rechtsextremisten. ... Leider finden sich rassistische und fremdenfeindliche Ansichten, wie sie vom mutmaßlichen Täter Tobias R. in seinem 24-seitigen Pamphlet beschrieben wurden, häufig auch in der normalen politischen Kommunikation. Ganz zu schweigen von den Schrecken, die in den sozialen Netzwerken verborgen bleiben.“