Schafft Covid-19 eine neue Welt?
Die Corona-Krise bringt allenthalben Gewissheiten ins Wanken. Wie wird unser Alltag in einigen Monaten aussehen? Erwartet uns ein Zusammenbruch der Weltordnung, oder bleiben die Folgen des Virus überschaubar? Kommentatoren fragen sich auch, ob wir nach der Pandemie eine andere Gesellschaft sein werden - und ob wir uns das wünschen sollten.
Motor für den Wandel ist das krisenerprobte Volk
Auf einen langfristigen Sinneswandel in der Gesellschaft hofft Jordi Juan, Chefredakteur von La Vanguardia:
„Wird nun ein Strategiewandel in der Weltpolitik möglich, weil es die Männer und Frauen leid sind, in einer entmenschlichten Welt zu leben? Oder werden, sobald die Pandemie überwunden ist, weiterhin dieselben Trumps, Putins und Konsorten die Geschicke des Planeten lenken, Wirtschaftskriege führen und den Klimawandel ignorieren? ... Ich bin pessimistisch, was den Gesinnungswandel unserer internationalen Politiker angeht, aber ich glaube, dass wir Bürger auf der Straße moralisch gestärkt aus dieser langen Ausgangssperre hervorgehen. Und letztlich sind wir doch diejenigen, die als einzige eine Änderung bewirken können.“
Vergesst alles, was ihr wisst
Die Corona-Krise wird die Welt, wie wir sie kannten, vollkommen zerstören, glaubt das Internetportal Gazete Duvar:
„Jetzt ist der Dörfler, der weit von der Stadt auf einem handtuchgroßen Landstück lebt, das gerade ausreicht, um darauf Landwirtschaft für die eigene Suppe zu betreiben, der Sieger des Tages. ... Allerdings liegt vor uns keine Landidylle mit Schäfer, sondern ein Bild der Zerstörung. Vor uns liegt eine kafkaeske Zukunft, in der die Staaten im Namen der Selbstversorgung ihre Mauern erhöhen und auf einem Chip in unseren Pässen unsere Gesundheitsdaten sammeln und kontrollieren und wir jeden Tag, jeden Moment beobachtbar werden. ... Ein Vorteil des Covid-19-Virus ist, dass es uns den Weg frei macht, um alles, was wir wissen und bis heute gelernt haben, in den Müll zu werfen. “
Wie die Amöben
Dass die Pandemie uns nachhaltig unserer menschlichen Eigenschaften beraubt, glaubt der Kardiologe Thanasis Dritsas in Athens Voice:
„Es ist sicher, dass die sogenannte Coronavirus-Pandemie früher oder später enden wird und dann die meisten von uns Covid-19 überlebt haben werden. ... Aber alle vorsorglichen, verbotenen und dringenden Maßnahmen werden sicherlich bei uns bleiben, um ein virtuelles Sicherheitsgefühl aufrechtzuerhalten, das uns alle zu Wesen unter chronischer Zurückhaltung und Unterdrückung verwandeln wird. Wir werden so lebendig sein wie die primitivste Struktur elementarer biologischer Organismen. ... Wir werden den menschlichen Charakter und das Merkmal der Menschheit verloren haben, wir werden wie Amöben leben.“
Unsere Welt für die Zukunft erhalten
Der Schriftsteller Georgi Gospodinow wünscht sich in 24 Chasa, dass das Virus nicht alles verändert:
„Meine optimistischste Prognose für die nächsten 20 Jahre ist, dass die wichtigsten Dinge so bleiben wie sie sind, nämlich: Dass die Menschen weiter Bücher lesen und über fiktive Helden weinen; dass sie Mitleid und Neugier empfinden; dass sie bis in den späten Herbst hinein die Sonne und im Winter den Schnee genießen; dass sie in Ruhe reisen; dass die heutigen Kinder eigene Kinder haben werden und dass alles so sein wird wie es vor 20 Jahren war. Das ist nicht wenig. Im Gegenteil: Es ist eigentlich alles. Ich denke, dass wir allmählich und mit Demut (ein wichtiges Wort) begreifen wie wichtig es ist, die Welt von gestern zu erhalten und ins Morgen zu bringen.“
Die Erde wird sich auch ohne Menschen weiterdrehen
Wir merken jetzt, wie fragil unsere hochentwickelte Zivilisation tatsächlich ist, schreibt Piotr Płoszajski, ehemaliger Generaldirektor der Polnischen Akademie der Wissenschaften, in Gazeta Wyborcza:
„Die aktuelle Pandemie erinnert uns an unseren tatsächlichen, höchst instabilen Platz im Ökosystem und ganz allgemein in der Evolution. ... Wir sollten besser nicht vergessen, dass wir Menschen nur eine historische Episode sind, eine brillante Mega-Zivilisation, die in kurzer Zeit phänomenal gewachsen ist, bevor sie sich dann selbst überwältigt hat, weil ihre eigenen Errungenschaften sie wehrlos vor Probleme geworfen haben, die sie selbst geschaffen hat. Irgendwann erwartet uns eine Super-Makro-Version des napoleonischen Waterloo. “