Kritik an Putins Krisenmanagement

Nachdem Medien berichtet hatten, die vergleichsweise niedrigen Todeszahlen wegen Covid-19 in Russland seien das Resultat von Fälschungen, war die Empörung unter russischen Offiziellen groß. Inzwischen lassen amtliche Daten die Kritik als berechtigt erscheinen, jedoch bleibt unklar, ob es sich um gezielte Fälschungen oder lediglich um Unzulänglichkeiten in der Erfassung handelt. Was ist davon zu halten?

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Echo Moskwy (RU) /

Das Lügengebäude zerfällt und reißt alles mit

Kirill Martynow, Politikredakteur von Nowaja Gazeta, sieht in einem von Echo Moskwy übernommenen Facebook-Post Russland von einer Vertrauenskrise moralisch zerfressen:

„Erst log der Staat, in dem er die realen Ausmaße des Geschehens vor den Menschen, vor sich selbst und dem Ausland verheimlichte. Als das Ausmaß der Fälschung offensichtlich wurde, log der Staat weiter und zerstörte so die letzten Reste an sozialem Vertrauen. … Die soziale, medizinische und ökonomische Krise trifft Russland hart, aber das Hauptdrama geschieht im ethischen Bereich: Der Staat behandelt die Bürger als 'Bevölkerung', wie Biomasse. ... Der moralische Niedergang des Staats, Lügen, sinnlose Gewalt und bürokratischer Irrsinn führen zum Zerfall der Gesellschaft: Wenn der Staat so mit uns umspringt, warum soll ich dann besser sein?, denkt sich der Einzelne.“

The Guardian (GB) /

Kremlchef droht Image- und Machtverlust

Der russische Präsident hat sich selbst innenpolitisch geschwächt, analysiert The Guardian:

„Putins Entscheidung, sich vor möglichem Schaden zu schützen und sich aus Moskaus Zentrum zurückzuziehen, hat seinem Ruf als furchtloser und harter Staatsmann stark geschadet. Nach wochenlanger Nachlässigkeit der Staatsführung hat Russland mit der am zweitschnellsten wachsenden Rate an Covid-19-Infektionen weltweit zu kämpfen. ... Weil er nicht persönlich für die gesundheitliche und wirtschaftliche Katastrophe zur Rechenschaft gezogen werden will, hat Putin die Verantwortung für die Bewältigung der Krise an die Regionen abgeschoben. Diese müssen nun praktisch alleine zurechtkommen. Wohlhabende Geschäftsleute, die sogenannten Oligarchen, sind in die Bresche gesprungen. Auf diese Weise verliert ein politischer Führer seine Macht.“

Ria Nowosti (RU) /

Selbst mit Dunkelziffer steht Russland noch gut da

Ria Nowosti bemängelt die Medienberichte und kommt nach verschiedenen statistischen Überlegungen zu dem Schluss:

„Neben Russland gibt es ein sehr niedriges Verhältnis von Toten zu Infizierten auch in Saudi-Arabien, Israel und der Türkei. Und zu guter Letzt: Selbst wenn man die These von New York Times und Financial Times akzeptiert, dass die Sterblichkeit aufgrund des Coronavirus in Russland 'um 70 Prozent höher ist als die offiziellen Daten', so wären sie noch immer ein Vielfaches niedriger als in den USA, von Südeuropa und dem Vereinigten Königreich ganz zu schweigen.“

newsru.com (RU) /

Handschuhe statt Helikoptergeld

Der oppositionelle Moskauer Lokalpolitiker Ilja Jaschin kritisiert die Aufhebung der Beschränkungen in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post:

„Üblicherweise hebt man eine Quarantäne erst auf, wenn eine Epidemie abflaut. ... Aber mit Putins Augen betrachtet, wird die Logik klar: Die Leute saßen anderthalb Monate eingesperrt zuhause, die meisten haben kein Geld mehr. Wenn man die Beschränkungen verlängern wollte, müsste man Gelder verteilen, damit die Menschen sich wenigstens etwas zu essen kaufen können. Aber Putin hat offenbar eine prinzipielle Entscheidung getroffen: Es gibt kein Geld. So bleibt nur die Alternative, die Beschränkungen aufzuheben, ungeachtet der Epidemie. Ihr habt kein Geld? Geht doch arbeiten. Ihr habt Angst zu erkranken? Zieht halt Masken und Handschuhe an.“

Kyiv Post (UA) /

Drückeberger im Kreml

Im Kampf gegen Corona drückt sich Putin vor der Verantwortung, analysiert Mark Galeotti von der UCL School of Slavonic & East European Studies in Kyiv Post:

„Putin will nicht mit der Pandemie und den schwierigen Maßnahmen des Kampfes gegen die Pandemie identifiziert werden. Obwohl er ein hoch zentralisiertes System geschaffen hat, ist er nicht der Oberbefehlshaber dieses Krieges. Stattdessen zwingt er lieber lokale Chefs, die schweren Entscheidungen zu treffen, mit denen man sowohl Leben als auch Wirtschaft retten soll. …Die Gouverneure werden ihr Bestes geben. Doch was das Beste ist, darüber gibt es keinen Konsens.“

MBK Media (RU) /

Abgetaucht wie Stalin zu Kriegsbeginn

MBK Media ist der Meinung, dass Putin mit seinem Abtauchen bei den Russen massiv an Ansehen verliert:

„Putin zeigt in aller Deutlichkeit, dass er öffentlich mit unangenehmen Dingen nicht in Verbindung gebracht werden und keine Quelle von Besorgnis sein möchte. Er wird immer mehr zum 'Schönwetter-Präsident'. Das erinnert sehr an Stalin in den ersten Kriegstagen, der sich auf eine abgelegene Datscha verzog und dort abwartete, wohin der Wind sich dreht. Nicht umsonst gehen im Netz Gerüchte um, Putin habe sich entweder am Seligersee oder im Waldai versteckt. Er kommt natürlich zurück, er wird sich aufrappeln und alle rundherum durchschütteln. Doch dieses wochenlange Schweigen wird man ihm nicht vergessen. “

NV (UA) /

Wo ist Wladimir?

Erstaunlich, wer in Zeiten der Notstandserlasse öffentlich in Erscheinung tritt, wundert sich das Onlineportal nv.ua:

„Putin erklärte die nächste Woche für arbeitsfrei, verhängte aber weder einen Notstand noch einen Ausnahmezustand. Anschließend haben die Behörden der Stadt und Region Moskau in eigenen Erlassen die 'Selbstisolierung' ausgerufen. Dann hat die Polizei per Lautsprecher verkündet, in Moskau sei eine Ausgangssperre verhängt. Und dann tritt in der Nacht zum 30. März Dmitri Medwedew (?!) auf Facebook auf. ... Das ist seltsam, müsste es doch nach russischen Gesetzen so laufen: Putin ruft das Ausnahmerecht aus, dieses wird dann vom Föderationsrat bestätigt. … Aber es gibt ein kleines Problem: Wladimir Putin kann den Notstand nicht ausrufen, da er verschwunden ist. ... Er erscheint seit vier Tagen nicht mehr in der Öffentlichkeit.“

Echo Moskwy (RU) /

Nicht das Virus, sondern Öl ist das Problem

Der Rockmusiker Andrej Makarewitsch prophezeit in einem von Echo Moskwy übernommenen Facebook-Post, dass die russische Führung die Pandemie weidlich nutzen wird:

„Ich sehe schon, wie in nächster Zeit alle unsere Nöte auf das Coronavirus geschoben werden. Dabei sind wir bei weitem nicht das am schwersten davon betroffene Land. Ist in den betroffenen Ländern etwa auch die Währung um ein Drittel eingebrochen? Das war nur bei uns? ... Die schwachen Stimmchen intelligenter Eierköpfe hatten immer wieder an unseren Sonnenkönig appelliert: Baut nicht Leben und Wohlstand dieses großen Landes allein auf Öl! ... Denen da oben ist es egal, wie ihr lebt. Sie sind nicht verarmt. Sie fürchten nur, dass ihr mal die Geduld verliert. Doch wie es aussieht, ist die Geduld des russischen Volkes grenzenlos.“

Ria Nowosti (RU) /

Balanceakt auf Messers Schneide

Der Kinderarzt und Medizin-Funktionär Leonid Roschal appelliert in Ria Nowosti an die Russen, Ruhe und das rechte Maß zu bewahren:

„Medikamente zur Eindämmung dieser Infektion gibt es noch nicht. Sie wird von selbst ihre Aggressivität verlieren und diese Abschwächung wird auch durch die wachsende Immunität selbst der nur schwach daran Erkrankten befördert. Außerdem wird es einen Impfstoff und Massenimpfungen geben, so wie das jetzt bei der Grippe und anderen Krankheiten der Fall ist. Doch echte Resultate der Impfungen sehen wir frühestens ein, zwei Jahre nach der Schaffung des Impfstoffes. Aber wir können nicht das ganze Land für diese Zeit komplett lahmlegen. Wir müssen ruhig auf des Messers Schneide balancieren.“

Echo Moskwy (RU) /

Der tödlichen Infektion wird Tür und Tor geöffnet

Der oppositionelle Wirtschaftswissenschaftler Andrej Illarionow hält in einem Blogbeitrag für Echo Moskwy die angekündigten Maßnahmen für kontraproduktive Augenwischerei:

„Die von ihm verkündete Ferienwoche hält die Epidemie nicht nur nicht auf, sie heizt sie noch an. Wir brauchen keine Ferien, sondern Quarantäne. Und nicht für eine Woche, sondern mindestens für einen Monat. Es müssten Hunderttausende, wenn nicht Millionen Bürger getestet werden. Es bräuchte Zehntausende Beatmungsgeräte. ... Doch davon sagt Putin nichts. Er hat überhaupt keine Lösung für das Problem der Russland erfassenden Epidemie vorgeschlagen, was bedeutet, dass er der tödlichen Infektion Tür und Tor öffnet. Der Preis, den wir für diese Unzulänglichkeit zu zahlen haben, wird gewaltig sein.“

Postimees (EE) /

Lungenentzündung und Keuchhusten - wer's glaubt!

Vikki Perijainen, bei Postimees für Faktenchecks zuständig, ist sehr besorgt angesichts dessen, was sie aus Russland mitbekommt:

„In einer Zeit, wo die ganze Welt in Panik ist, reagieren die großen russischen Medien ruhig. Die sozialen Medien und oppositionelle Publikationen zeichnen ein ganz anderes Bild. ... Laut Ärzten und Aktivisten ist die Statistik der Infizierten bewusst verfälscht. ... Dass man Coronavirus-Infektionen unter anderen Diagnosen verbucht, ist ein Grund, warum laut offizieller Erfassung die Fallzahlen für Lungenentzündungen um 37 Prozent und die für Keuchhusten um 40 Prozent gestiegen sind. ... Das undemokratische Regime verpasst Ärzten einen Maulkorb und fälscht Statistiken, um internationale und einheimische Kritik zu vermeiden. Maßnahmen kommen zu spät. Das gleiche ist in China passiert, nun leidet die ganze Welt.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Hauptsache, das Volk bewahrt die Ruhe

Radio Kommersant FM hat den Eindruck, dass Putin vor allem einen noch dramatischeren Ausnahmezustand verhindern wollte:

„Es ist ja nichts Schlimmes passiert, eher umgekehrt: statt Quarantäne eine Woche Urlaub. Aber wo kann man sich entspannen, wenn alles geschlossen ist? Es bleiben nur der Fernseher zuhause und der Alkohol. Das ist immer noch besser als die Armee auf den Straßen - das scheint die Idee dahinter. Die Botschaft war: Russland kommt schon irgendwie klar, aber wir sind nicht allein in der Welt. Die Attacke kommt von außen, also deshalb, Bürger, habt Verständnis und befolgt die Anweisungen der Ärzte. Und das Verfassungsreferendum wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Das war absehbar, denn es ist schwierig, die Wählerschaft während einer Pandemie an die Urnen zu locken - und das wiederum könnte sich auf das Resultat auswirken.“