Twitter warnt erneut vor Trump-Tweet
Seit einer Woche liefern sich Trump und Twitter harte Auseinandersetzungen: Nachdem der Internet-Konzern Tweets des US-Präsidenten als Falschnachrichten markiert hatte, erließ dieser ein Dekret zur stärkeren Reglementierung sozialer Medien. Nun hat Twitter erneut Nachrichten von Trump als gewaltverherrlichend bezeichnet. Wohin führt der Konflikt?
Verantwortung nicht den Plattformen überlassen
Aufgrund ihrer Bedeutung für die öffentliche Debatte muss dringend geklärt werden, welche Verantwortlichkeit den sozialen Netzwerken zukommt, drängt Kolumnist Pierre Haski im Radiosender France Inter:
„Während für die Verantwortung der Medien eine klare Definition vorliegt, ist die der digitalen Plattformen unklarer. Denn obwohl Zuckerberg nicht der 'Schiedsrichter der Wahrheit' sein will - was auch gut so ist -, ist er es faktisch bereits, denn der Algorithmus von Facebook beeinflusst beträchtlich, was wir in unseren News Feeds lesen oder nicht. Und vor allem ist es sehr komplex zu definieren, wer verantwortlich sein soll, möchte man ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Verantwortung finden. In einer Welt voller Fake News - einschließlich der von Präsidenten - Manipulationen und Emotionen ist es gefährlich, die alleinige Verantwortung den Plattformen zu überlassen.“
Twitter braucht demokratisch legitimierte Regeln
Die Entscheidung über die Zulässigkeit von Tweets darf nicht Twitter selbst überlassen werden, meint der Chefredakteur von Welt am Sonntag, Johannes Boie:
„Egal wie man zu Trump steht - wer gibt der Firma das Recht, den Tweet des Präsidenten als gewaltverherrlichend zu kennzeichnen? Während beispielsweise der iranische Diktator Khamenei ungestört die Vernichtung Israels auf Twitter fordern darf. Dass eine private Firma tun und lassen kann, was sie möchte, greift hier als Argument zu kurz. ... [A]uch das Regelwerk, das für sie zu gelten hat ... [muss] demokratisch legitimiert sein und erschaffen werden. Die Abwägung, was Gewaltverherrlichung ist und was nicht ... müssen Beamte treffen, die entsprechend ausgebildet sind. Die Klicksklaven und Algorithmen der Netzwerke können es nicht.“
Der Preis der Naivität
Nicht nur das Beispiel USA beweist, wie wichtig Faktenchecks in sozialen Medien sind, erinnert die Expertin für hybride Kriegsführung Ljubow Zybulska in Ukrajinska Prawda:
„2014 haben wir in einem noch nie dagewesenen Ausmaß Operationen des Kreml in den sozialen Netzen zu den Ereignissen in der Ukraine gesehen. Es ist schwer zu sagen, welchen Preis wir für unsere Leichtgläubigkeit und das Fehlen einer klaren Politik zu Falschinformationen durch soziale Medien bezahlt haben. … Soziale Netzwerke finden sich im Spannungsfeld zweier Kräfte. Auf der einen Seite stehen die, die populistisch glauben, dass es auf diesen Plattformen keine Zensur geben darf. Sie haben den US-Präsidenten auf ihrer Seite. Und auf der anderen Seite stehen die, die die Gefahr einer Willkür auf sozialen Plattformen seit Jahren beobachten und verstehen, welche großen Möglichkeiten diese für Manipulation bieten.“
Nur ein neuer Ablenkungsversuch?
Je weniger über die Corona-Krise gesprochen wird, umso besser für Trump, konstatiert Ilta-Sanomat:
„Viele sehen dies als einen erneuten Spielzug des meisterhaften Manipulators. Die Zahl der Corona-Opfer in den USA beträgt nun 100.000. Der Trump-Administration werden gravierende Fehler im Kampf gegen das Virus vorgeworfen. Für Trump ist es gut, wenn über etwas anderes gesprochen wird. Durch diesen Streit passiert das. Das schließt aber nicht aus, dass Trump auch wirklich wütend ist. Er verhält sich manchmal wie ein verwöhntes Kleinkind. Nun hat jemand sein Lieblingsspielzeug angefasst.“
Steilvorlage für Twitter-Präsident
Protagon befürchtet, dass Trump den Fake-News-Eingriff von Twitter zu seinem Vorteil nutzen könnte:
„Das ist etwas, was Trump mehr als alles andere braucht: Einen Krieg mit den Großen der Technologiebranche. Gibt es etwas Antisystemischeres, das er seinem Publikum verkaufen könnte? ... Wenn die Vereinigten Staaten die Funktionsweise von Plattformen ändern, spiegeln sich diese Änderungen möglicherweise in den Regeln wider, die wir als Grundlage für die öffentliche Debatte in der digitalen Welt verwenden. Natürlich gibt es ein Problem. Facebook ist ein Hotspot für gefälschte Nachrichten und Twitter fördert aufgrund seiner Struktur die Polarisierung. ... Möglicherweise ist jetzt eine globale Diskussion über ihre Funktionsweise erforderlich. Aber die sollte nicht von Trump gestartet werden.“
Der direkte Draht zum Wähler
Twitter und Trump verbindet eine Hassliebe, stellt NRC Handelsblad fest:
„Trump kann nicht ohne Twitter, wie er selbst oft genug gesagt hat. Denn das soziale Netzwerk gibt ihm die Gelegenheit, ohne die Hilfe von Journalisten seine Wähler zu erreichen. Dass Twitter seine Nachrichten mit Warnungen markiert, stört seine direkte Verbindung zu seinen Wählern. ... Außerdem besteht Trumps Wahlstrategie zum großen Teil aus Angriffen auf Gegner mit unbewiesenen Vorwürfen. Wenn soziale Netzwerke wie Twitter strenger gegen lügende Politiker vorgehen, kann das Trumps Wiederwahl 2020 gefährden.“
Digitaler Wilder Westen muss reguliert werden
Es ist höchste Zeit, dass über soziale Medien verbreitete Nachrichten stärker kontrolliert werden, freut sich Kolumnist Gianni Riotta in La Stampa:
„Das Thema ist von entscheidender Bedeutung: Plattformen können sich nicht länger hinter einer fiktiven Neutralität verstecken, bei der sie mehr die Gewinne als die Wahrheit im Auge behalten. Sie können aber auch nicht als Zensoren gegen Ideen fungieren, und in Amerika ist sogar eine Lüge über Impfstoffe oder politische Morde legal, außer im Falle 'tatsächlicher Böswilligkeit', wie sie das historische Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1964 im Fall New York Times vs. Sullivan definierte. ... Die mutige Entscheidung von Twitter eröffnet die Debatte, und das ist gut so: Sogar Führungskräfte wissen jetzt, dass sie sich an die Fakten halten müssen.“
Defizite der Plattform werden deutlich
Faktenchecks dieser Art kann man sich sparen, spottet Der Spiegel:
„Dass Twitter sich ... ausgerechnet auf 'CNN, die Washington Post und andere' beruft und einfach mehrere Links auf Artikel und Tweets von Journalisten als Faktencheck verkauft, ist ... eine unpassende Entscheidung. Nicht, dass es grundsätzlich schlechte Quellen wären, aber niemand, der Trump ernst nimmt, wird diese Medien ernst nehmen. Damit wird Twitters strukturelles Problem deutlich: Das Unternehmen hat zwar diverse Richtlinien für den Umgang mit Falschinformationen, aber keine geeigneten Partner, um sie durchzusetzen. Anders als Facebook arbeitet Twitter nicht mit externen Faktencheckern zusammen, sondern entscheidet intern, was als Falschinformation zu zählen ist. ... Der erste Faktencheck [eines Trump-Tweets] wirkt jedenfalls wie eine Vorlage für viele Eigentore.“
Auf dem linken Auge blind
Twitter, Google und Co. sind bei ihrer Einordnung von Nachrichten ebenso linkslastig wie die meisten traditionellen Medien, klagt The Times:
„Viele mögen denken, dass Trump mehr lügt als andere Politiker. Aber es ist nicht unangemessen zu verlangen, dass die Standards, die Twitter, Google und andere bei ihm anwenden, auch für seine Gegner gelten sollten. Die US-Technologieriesen dominieren unseren Informationsfluss wie sonst nichts. Die Technologie, die sie entwickelt haben, kann eine breite Vielfalt von Stimmen zu allen politischen, kulturellen und anderen Themen ermöglichen. Doch stattdessen bemühen sich diese Unternehmen darum, dass ihre Plattformen von derselben engen Auswahl an Stimmen dominiert wird, die in den meisten anderen Medien den Ton angeben.“
Biden muss gewinnen
Der Politikstil des amtierenden US-Präsidenten lässt Dagens Nyheter um einen neuen flehen:
„Wegen Corona war Joe Biden gezwungen, seine Kampagne von zu Hause in Delaware aus zu führen. Trotzdem führt Barack Obamas Vizepräsident in den Umfragen. ... Aber das kann sich schnell ändern und das Seltsame ist, dass Bidens Vorsprung nicht größer ist. Wir haben einen Präsidenten, der die Amerikaner auffordert, sich Desinfektionsmittel zu injizieren, während die Zahl der Covid-19-Todesopfer die 100.000 übersteigt. Er verspottet seine Verbündeten, schließt bizarre Abkommen mit Nordkorea und spielt unter der Decke mit Russland. Er stellt sich an die Seite von Rechtsextremisten, dirigiert Trollarmeen und droht, böswillige Medien auszuschalten, die die Wahrheit hinter seinen Lügen aufdecken. Gewinnen Sie einfach, Biden!“