Es brodelt in den USA: Welche Rolle spielt Trump?
In den USA haben nach der Tötung von George Floyd das zweite Wochenende in Folge Zehntausende Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert. US-Präsident Trump hatte zuvor mit einem Einsatz des Militärs gedroht und von Ausschreitungen als "Akt inländischen Terrors" gesprochen. Kommentatoren gehen der Frage nach, welche Schuld Trump an den gegenwärtigen Spannungen trägt.
Es droht ein Ende wie das der UdSSR
Der US-Präsident führt sein Land in einen gefährlichen Kalten Krieg, analysiert Historiker Nicolas Baverez in Le Figaro:
„Kaum 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drohen nun die USA auseinanderzubrechen. Dies bestätigt die Behauptung des [Historikers Alexis de] Tocqueville, wonach Demokratien weniger auf Grund von militärischen Niederlagen als auf Grund der Verdorbenheit ihrer Institutionen durch Demagogen und den Verfall des Bürgersinns zu Grunde gehen. … [Trump] hat die USA in eine selbstmörderische Strategie hineingezogen, indem er sich mit einer zerrissenen und von ihren europäischen und asiatischen Verbündeten isolierten Nation in einen neuen Kalten Krieg gestürzt hat. Also genau das Gegenteil der von Harry Truman gegenüber Stalin getroffenen Entscheidungen, die den Zerfall des Sowjetismus 1989 zur Folge hatten.“
Brechstange statt Mitgefühl
Trump ist unfähig, einfühlsame Botschaften zu senden, beobachtet Die Presse:
„Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd hätte es eines Staatsmanns bedurft, der die Macht des Wortes mit Bedacht einsetzt, der Mitgefühl zeigt. ... Doch Trump brachte es nicht zuwege, wohltemperierte versöhnliche Töne anzuschlagen. Er gab lieber den Law-and-Order-Präsidenten, drohte mit dem Einsatz des Militärs und goss Öl ins Feuer. ... Hätte sich das Lauffeuer unter einem anderen US-Präsidenten ebenso rasch und weit verbreitet? Kaum! Trump wirkt als Brandbeschleuniger und Brennglas für starke Emotionen.“
Zündeln ist Teil des Wahlkampfs
Der US-Präsident setzt bewusst auf Spaltung, um seine Basis zu mobilisieren, erklärt Times of Malta:
„Donald Trump weiß, dass eine harte Linie beim Kern seiner Unterstützer gut ankommt und sich bei der Präsidentenwahl im November als entscheidend erweisen könnte. Er hat nicht versucht, das zu tun, was von einem Präsidenten erwartet wird: das Land zu beruhigen und zu vereinen. Trump hat auch nicht versprochen, Lösungen für das Problem des Rassismus innerhalb der amerikanischen Polizeikräfte zu suchen. Anstatt die Gemüter zu beruhigen, gießt er Öl ins Feuer. Viele befürchten, dass er versuchen könnte, die Vormachtstellung Weißer zum Kampfruf seiner Wiederwahlkampagne zu machen.“
Demokraten sollten vor eigener Tür kehren
Wer Donald Trump und die Republikaner nun zu Sündenböcken erklärt, macht es sich zu leicht, erklärt The Irish Independent:
„Im linksliberalen Kalifornien regieren die Demokraten in 46 von 53 Kongresswahlbezirken. Auf Bundesstaatenebene wurde seit 2006 kein Republikaner mehr in ein Amt gewählt, alle gewählten Behördenvertreter sind Demokraten. Dennoch zählt Kalifornien weiterhin zu den Bundesstaaten, in denen die Polizeigewalt am schlimmsten ist und Minderheiten in der Polizei vergleichsweise wenig vertreten sind. Donald Trump mag ein schrecklicher Mensch sein, aber wie kann das seine Schuld sein? Von den 50 größten Städten in den Vereinigten Staaten werden 35 in ähnlicher Weise von Demokraten und nur 13 von Republikanern geführt.“
Die Spaltung begann lange vor Trump
Es bräuchte vor allem mehr Konsens in den beiden großen Parteien der USA, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Trump ist bloss ein Teil des Problems. Die Ungleichheit in den USA lässt sich nur mit tiefgreifenden Reformen ernsthaft angehen, die eine breite politische Allianz erfordern. Allein der dringend notwendige Mentalitätswandel in der Kriminalitätsbekämpfung bedürfte eines Kraftakts, der weite Teile der Gesellschaft einschliesst. Der dafür unentbehrliche Grundkonsens der beiden grossen Parteien, der in den sechziger Jahren die Bürgerrechtsgesetze ermöglicht hatte, ist jedoch verloren gegangen – schon lange vor Trump.“
Liberales Bündnis über Hautfarben hinweg
Aus den Demonstrationen in den USA könnte ein neues politisches Bündnis hervorgehen, glaubt Historiker Pap Ndiaye in Le Monde:
„Angesichts der beeindruckend bunten Vielfalt der protestierenden Mengen scheint eine neue Koalition aus liberalen Schwarzen und Weißen möglich - ein gutes halbes Jahrhundert nach der Bürgerrechtskoalition, die sich Ende der 1960er Jahre auflöste, als Nixon gewählt wurde. Mit Koalition ist hier nicht einfach eine Bündelung der Kräfte im Wahlkampf gemeint, sondern die Ausarbeitung eines politischen Programms, das den Forderungen der Schwarzen einen bedeutenden Platz einräumt. Gäbe es eine neue Koalition, würde sie sich nicht nur bilden, um das Schlimmste - Trumps Wiederwahl - zu verhindern, also aus Mangel an Alternativen, sondern auch, um dem herzergreifenden Schrei der Afroamerikaner Rechnung zu tragen.“