Brexit-Verhandlungen kommen nicht vom Fleck
Am Freitag ist die vierte Runde der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU ohne wesentliche Fortschritte zu Ende gegangen. Dies teilten die Unterhändler Barnier und Frost übereinstimmend mit. Die Zeit drängt: Ein Abkommen müsste bis spätestens 31. Oktober ausgehandelt sein. Kommentatoren fragen sich, wie groß das Interesse Londons daran wirklich ist.
Brüssel schätzt London falsch ein
Die britische Regierung strebt nicht um jeden Preis ein Abkommen an, warnt Kolumnist Wolfgang Münchau in Financial Times:
„Als die EU ihr eigenes Verhandlungsmandat festlegte, ging sie davon aus, dass Großbritannien das Abkommen dringender braucht als die EU und dass Boris Johnson höchstwahrscheinlich einknicken wird. Einige EU-Anhänger in Großbritannien sollten sich fragen, inwieweit sie eine Rolle bei der Festigung dieser Erwartungen gespielt haben. ... Dass eine Partei einen wirtschaftlichen Vorteil anstrebt, ist das eine. Der anderen Seite seine eigenen Regeln aufzwingen zu wollen, wie es die EU versucht, ist etwas anderes. Ich kritisiere das Verhandlungsmandat der EU nicht aus moralischen Gründen. ... Meine Bedenken gründen sich darauf, dass es auf einer Fehleinschätzung beruhen könnte.“
Corona als perfekte Ausrede
Hatte die Corona-Krise dem britischen Premier wegen seines Krisenmanagements zunächst geschadet, bietet sie ihm nun die Chance, sich wieder einmal geschickt aus der Affäre zu ziehen, beobachtet Le Temps:
„Boris Johnson zeigt offen seine Ablehnung gegenüber jeglicher Verlängerung und ist sich sicher, dass - egal, wie die Verhandlungen ausgehen - für ihn kein großes Risiko besteht. Bevor die Pandemie Großbritannien vor drei Monaten erreicht hat, musste er die möglichen Schäden noch genauestens evaluieren, die ein harter Brexit den Unternehmen seines Landes zufügen würde. Jetzt ist allen klar, dass der Gesundheitskrise eine Wirtschaftskrise folgt. Dies erlaubt dem Premier, die Konsequenzen seiner Strategie gegenüber der EU auszublenden. Wer wird in einem Jahr schon sagen können, was genau diesen oder jenen Indikator in den tiefroten Bereich gerissen hat?“
Johnson will wohl den Hard Brexit
Die mehrmonatige Quarantäne gäbe Boris Johnson einen guten Vorwand, eine Fristverlängerung zu beantragen, ohne sein Gesicht zu verlieren, glaubt El País - befürchtet aber, dass er die Gelegenheit nicht nutzen wird:
„In vier Monaten ein Abkommen verhandeln zu wollen, für das normalerweise Jahre nötig wären, ist nicht nur unrealistisch. ... Der britische Unterhändler David Frost hat bereits eingestanden, dass sich die Verhandlungszeit verringert hat und dass man bereits ausgereizt habe, was über virtuelle Treffen möglich ist. Wenn seine Regierung diesen Umstand nicht als Ausrede nutzt, um das Versprechen zu brechen und eine zusätzliche Frist zu beantragen, zeigt das zweifellos, dass sie auf einen chaotischen Austritt setzt.“