Demos in der Pandemie: Grundrecht vs. Gesundheit
Ob bewusst oder unfreiwillig: Bei den Anti-Rassismus-Demonstrationen der letzten zwei Wochen haben die Protestierenden nicht immer den gebotenen Sicherheitsabstand eingehalten. Bereits zuvor war es bei Kundgebungen gegen die Pandemie-Einschränkungen in einigen Ländern Europas zu ähnlichen Problemen gekommen. Was tun, wenn die Ausübung eines Grundrechts die öffentliche Gesundheit gefährden könnte?
Tod von Menschen nicht in Kauf nehmen
Massendemonstrationen ohne Abstand wie am vergangenen Wochenende dürfen sich nicht wiederholen, mahnt die Frankfurter Rundschau:
„Die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit gehören zu den Grundrechten. Aber wo Rechte sind, existieren auch Pflichten. Und dazu gehören nicht nur die Anmeldung einer Demonstration, sondern in Corona-Zeiten auch Hygienevorschriften. Auch wenn es schwer auszuhalten ist: Diese Rechte und Pflichten gelten - auch bei Demonstrationen. Der gute Zweck heiligt nicht die schlechten Mittel. Ob Verschwörungstheoretiker die Abstandsregeln auf Kundgebungen ganz bewusst verletzen oder Demonstranten gegen Rechts die Abstände unfreiwillig nicht einhalten, weil es einfach zu voll ist, macht keinen Unterschied: Es wird der Tod von Menschen in Kauf genommen.“
Gut, dass Leute auf der Straße sind
Die Menschen bei den Black-Lives-Matter-Demonstrationen zeigen ein schützenswertes Engagement, so Politiken:
„In jeder Demokratie ist das Recht, zu demonstrieren und seinen Haltungen einen körperlichen Ausdruck zu verleihen, eines der wichtigsten Rechte. ... In extremen Notsituationen kann das Versammlungsrecht natürlich suspendiert werden, aber dazu ist es in der Corona-Krise [in Dänemark] glücklicherweise nicht gekommen. Und dass politischen Demonstrationen während der Pandemie mehr Freiraum und Freiheit zugestanden wird als nahezu allem anderen, ist Zeichen einer gesunden Gesellschaft. Das, was die jungen Dänen in großen Mengen auf die Straße getrieben hat, waren nicht Partys. ... Nein, was sie angetrieben hat, war ein Protest gegen Rassismus und Diskriminierung. Sie haben Sinn für die Gesellschaft und Engagement gezeigt, dafür sollten sie gelobt und nicht gescholten werden. “
Falscher Fokus der Politik
Spaniens Gesundheitsminister hat die Protestierenden eindringlich ermahnt, bei Demos die Sicherheitsabstände einzuhalten. Er hätte den Blick besser woandershin gerichtet, findet die Anthropologin Nuria Alabao in ctxt.es:
„Die Debatte über die öffentliche Gesundheit überdeckte bequemerweise die Debatte über die Lebensbedingungen der Migranten, über den alltäglichen Rassismus, den Menschen erleiden, die anders aussehen, ob sie nun Spanier sind oder nicht. ... Der um die Sicherheit besorgte Minister hätte auch einen Blick darauf werfen können, wie die Migranten leben und unter welchen Umständen sie in der andalusischen Landwirtschaft arbeiten. Denn dort gibt es überhaupt keine Sicherheitsmaßnahmen. Allein auf den Feldern von Huelva leben etwa 3.500 Menschen mit Migrationshintergrund zusammengedrängt in Hütten ohne grundlegende Hygiene-Bedingungen. Vielen fehlt sogar Wasser zum Händewaschen.“