Wie läuft der wirtschaftliche Wiederaufbau?
Die EU-Finanzminister haben den Streit über den Corona-Wiederaufbaufonds der EU auf ihrem virtuellen Gipfel am Dienstag nicht beilegen können. Das europäische Statistikamt Eurostat gab derweil bekannt, dass die Wirtschaftsleistung in der Eurozone im ersten Quartal zwar eingebrochen ist, aber weniger stark als erwartet. Kommentatoren blicken in die Zukunft und machen Vorschläge für die Wiederbelebung der Konjunktur.
Blick in die Kristallkugel
Die Unsicherheit ist zu groß für treffende wirtschaftliche Prognosen, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Die einzige Funktion von Wirtschaftsprognosen sei es, meinte einst John Kenneth Galbraith, die Astrologie respektabel aussehen zu lassen. Selten war dieser Ausspruch zutreffender als dieser Tage. So ist die wirtschaftliche Unsicherheit derart gross, dass der Blick in die Zukunft blosser Spekulation zu gleichen scheint. ... Bis die Wirtschaft wieder das Vorkrisenniveau erreicht, wird es laut der OECD noch lange dauern. ... Sind Konjunkturprognosen tatsächlich wesensverwandt mit der Astrologie, man müsste von einem himmeltraurigen Horoskop sprechen. Vor allem aber müsste man hoffen, dass die Treffsicherheit der Ökonomen ähnlich schlecht ist wie jene der Sterndeuter.“
Gutscheine wirkungsvoller als Geldspritzen
Um die Nachfrage zu stimulieren, sollten sich Europas Regierungen chinesische Lokalverwaltungen zum Vorbild nehmen, rät Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in The Irish Independent:
„Ein Großteil der Hilfsgelder, die Haushalte und Unternehmen erhalten, um die Nachfrage anzukurbeln, wird wahrscheinlich aufgrund von Zukunftsängsten und weniger Kaufmöglichkeiten auf deren Bankkonten liegen bleiben. ... Regierungen sollten erwägen, Gutscheine auszustellen, um den Konsum der Haushalte anzukurbeln. Dies geschieht in China, wo Kommunalverwaltungen in 50 Städten digitale Coupons ausstellen, mit denen Waren und Dienstleistungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums gekauft werden können.“
Fairer Wettbewerb statt Hilfe
Der Redakteur der Wirtschaftszeitung Äripäev, Aivar Hundimägi, mahnt auf dem Onlineportal des estnischen Rundfunks Eesti Rahvusringhääling, dass die Unternehmen sich nicht an die staatlichen Hilfsmaßnahmen gewöhnen dürfen:
„Man hört von vielen estnischen Unternehmern, dass der Staat sie unterstützen muss. In diesem Regen von Hilfsmaßnahmen darf man den kritischen Blick aber nicht verlieren und muss darauf achten, dass die Hilfe so genutzt wird, wie es gedacht ist. ... Die Wirtschaft braucht nicht Hilfe, sondern Chancengleichheit, ehrlichen Wettbewerb und Investitionen des öffentlichen Sektors, um dessen Aufträge sich alle bewerben können. Im schlimmsten Fall hindert die Direkthilfe an Unternehmen die Erneuerung der Wirtschaft, verschwendet begrenzte Ressourcen für falsche Ziele, verzerrt den Wettbewerb und nimmt der Marktwirtschaft die Lebenskraft.“
Selbst Optimisten sind überrascht
Die Aargauer Zeitung ist zuversichtlich, dass die Wirtschaft bald wieder in Fahrt kommt:
„Ausgestanden ist die Krise noch lange nicht. Solange kein Impfstoff da ist, bleiben die Menschen und die Wirtschaft verletzlich. In vielen Branchen könnte es nach dem Auslaufen der Kurzarbeit zu Entlassungen kommen. Und was, wenn die Finanzspritzen von Staaten und Notenbanken ihre Wirkung verlieren? Die Risiken bleiben beträchtlich. Doch man darf feststellen: Die Gegenbewegung ist schneller und kräftiger, als es vor wenigen Wochen selbst Optimisten erwartet hätten. Die Rezession, in der wir stecken, war in ihrer Entstehung beispiellos. Gut möglich, dass das auch für deren Bewältigung gilt.“
Massenentlassungen wären jetzt kontraproduktiv
Umfragen unter tschechischen Firmen zeigen, dass diese aus früheren Krisen gelernt haben, konstatiert Hospodářské noviny:
„Die tschechischen Geschäftsleute haben die Lehren aus der letzten Krise und der darauffolgenden Wirtschaftsperiode nicht vergessen, die zu einem massiven Mangel an qualifizierten Mitarbeitern geführt hatte. … Heute sind ihnen erfahrene Mitarbeiter wichtig. Entlassungen sollen moderat ausfallen. ... Das Zusammenhalten wichtiger Teams ist ein Wettbewerbsvorteil. Dafür sind staatliche Beihilfen unerlässlich. Auch extrem niedrige Zinssätze, die die Verschuldung von Verbrauchern und Unternehmen 'versüßen', spielen eine wichtige Rolle. Hersteller, die in einer Krise nicht 'Muskeln und Gehirn' verlieren, sind im Vorteil.“
Corona-Chancen beim Schopfe packen
Litauens Regionalverwaltungen sollten die Möglichkeiten nutzen, die aus der Corona-Krise entstehen, rät die Wirtschaftsexpertin der Swedbank Litauen, Greta Ilekytė, in Verslo žinios:
„Es mag paradox klingen, doch die jetzige Krise stellt für viele Regionen eine einmalige Chance dar. Mit der steigenden Skepsis gegenüber der Globalisierung und dem Ziel folgend, die Lieferketten möglichst einfach zu gestalten, werden viele europäische Unternehmen die Produktion in die Nähe verlagern. Litauen, wo die Gehälter immer noch unter dem westeuropäischen Durchschnitt liegen, könnte ins Visier der Investoren geraten. Dies bedarf jedoch auch eines energischeren Handelns vonseiten des Staats, um den Investoren bessere Bedingungen zu sichern. ... Dabei ist auch die Rolle von Kommunalverwaltungen und lokalen Wirtschafts- und Gemeinschaftsakteuren wichtig, ebenso ihr Enthusiasmus und ihre Initiative.“