"Cancel Culture": Meinungsfreiheit in Gefahr?
Nach dem offenen Brief von 150 Autoren, Wissenschaftlern und Aktivisten gegen eine immer intolerantere Diskussionskultur, darunter Salman Rushdie, Margaret Atwood und Noam Chomsky, geht die Debatte um eine sogenannte "Cancel Culture" weiter. Ob tatsächlich "der freie Austausch von Informationen und Ideen mit jedem Tag mehr eingeengt wird", nehmen auch Kommentatoren sehr unterschiedlich wahr.
Rückfall in die Steinzeit
Ulrike Ackermann, Politikwissenschafterin und Soziologin, macht sich in der Neuen Zürcher Zeitung Sorgen um die Entwicklung der Debattenkultur:
„Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen plötzlich schwerer als die Prinzipien und die Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. ... Inzwischen scheint unsere Gesellschaft ... auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und zur Bildung von Horden mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden Communitys, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen.“
Opfer allenthalben
Wer aktuell Debatten gewinnen will, muss sich als Opfer darstellen, kommentiert Polityka:
„Dies gilt heute für fast jeden Protest und jede politische Bewegung, die Erfolg haben will. Selbst Gruppen, zu denen das Opfer-Image nicht passt, nutzen es überraschend effektiv. In Südafrika gibt es Bewegungen, die weiße, wirtschaftlich privilegierte Bauern und Bürger als Opfer einer Verfolgung präsentieren. Populistische Parteien in Europa verdanken ihre Erfolge der Propaganda, die Politiker, die seit Jahren Mitglieder der Elite sind, als von einem feindlichen System der Außenseiter unterdrückt darstellt.“
Oft missbrauchte Allzweckwaffe
Wer sich öffentlich äußert, muss auch Gegenwind aushalten, findet der Kurier:
„Die Meinungsfreiheit, eines der höchsten Güter reifer Demokratien, ist wirklich unter Druck geraten. Nicht, weil Bewegungen oder Menschen aus Twitter gekickt werden. Sondern weil sie als begriffsunscharfe Allzweckwaffe von allen in den Dienst gezwungen wird, denen es gar nicht um Meinungsfreiheit geht. Und darüber vergessen wurde, was an ihr wichtig ist. Die Meinungsfreiheit richtet sich nämlich an staatlich sanktionsfreie Meinungsäußerung: Jeder Bürger kann jede Meinung äußern, die den Gesetzen entspricht, ohne dafür gestraft zu werden. ... Und es hat auch gar nichts damit zu tun, seine Meinung ohne Reaktion hinausposaunen zu dürfen: Wer sich äußert, der bekommt eine Gegenäußerung, und die ist zumeist scharf. Das muss man aushalten, die Meinungsfreiheit wird dadurch noch nicht eingeschränkt.“
Ein mutiger Schritt
Endlich rühren sich die Intellektuellen, lobt Kolumnist Pierluigi Battista in Corriere della Sera:
„Die Meinungsfreiheit wird auf eine harte Probe gestellt, wenn Menschen wie Ian Buruma, Chef der New York Review of Books, entlassen werden, weil sie dissonante Positionen beziehen. Als ob der Konflikt der Ideen, die offene, auch harte, aber freie und belebende Diskussion, der loyal geführte Kulturkampf, Argument gegen Argument, These gegen These, nicht der Nährboden demokratischer Gesellschaften wäre, die auf Pluralismus basieren und nicht auf dem Dualismus eines Kampfs zwischen dem Guten und einem Bösen, das zensiert werden muss. ... Mit diesem Appell, einer mutigen Geste, versuchen Intellektuelle nun, diesem Abdriften Richtung Intoleranz Einhalt zu gebieten.“
Kritikfähigkeit sieht anders aus
Kolumnistin Nesrine Malik hat in The Guardian kein Verständnis für die Initiative und wirft den Unterzeichnern Dünnhäutigkeit vor:
„Für diejenigen, die es nicht gewohnt sind, hinterfragt zu werden, fühlt sich das alles sehr persönlich an. Sie verwechseln einen Mangel an Verehrung durch Menschen, die zum ersten Mal ihre Ansichten äußern können, mit einem Angriff auf ihr eigenes Recht auf freie Meinungsäußerung. Sie missverstehen die neuen Methoden, mit denen ihnen gesagt werden kann, dass sie falsch liegen oder irrelevant sind, als das Bellen eines Mobs, anstatt anzuerkennen, dass sie sich einem Publikum stellen müssen, das erst kürzlich seine Stimme gefunden hat. Die Welt ändert sich. Es ist keine 'Cancel Culture', wenn man darauf hinweist, dass sie sich in vielerlei Hinsicht nicht schnell genug ändert.“
Trump nicht das Feld überlassen
Auch Berlingske findet die Initiative gut, vor allem angesichts der Entwicklungen in den USA:
„Die Taktik, Menschen in den sozialen Medien bloßzustellen und danach Entschuldigungen und Kündigungen zu fordern, würgt die gesellschaftliche Debatte ab. In den USA müssen auch moderate Linke einsehen, dass es Donald Trump in die Hände spielt, wenn es linksorientierten Extremisten erlaubt wird, in der Rassismusdebatte die Tagesordnung zu bestimmen. Der Präsident zeigt selbst radikale Intoleranz, aber er setzt sich gerne als Verteidiger der freien Debatte in Szene. ... Es wäre eine Bankrotterklärung für die amerikanische Linke, die Verteidigung der freien Rede Donald Trump zu überlassen.“