Belgrad kommt nicht zur Ruhe
Die Proteste in Belgrad, ausgelöst von Präsident Vučićs Ankündigung neuerlicher Corona-Beschränkungen, gehen unvermindert weiter. Nachdem es zwei Nächte lang Ausschreitungen gab, demonstrierten am Donnerstag Tausende Menschen friedlich vor dem Parlament. Kommentatoren analysieren, was die Protestierenden antreibt und kritisieren, dass dem spontanen Unmut eine gemeinsame Richtung fehlt.
Ein paar Demos werden den Leuten nicht reichen
Die Situation wird sich so schnell nicht entspannen, weiß Delo:
„Die Regierung ist zum ersten Mal mit aller Härte gegen die Demonstranten vorgegangen. Bis an die Zähne bewaffnete Polizisten haben auch diejenigen verprügelt, die an den Demonstrationen gar nicht teilgenommen haben. Vučić wird versuchen, die Situation zu beruhigen, er hat aber nicht viel Spielraum. Die spontanen Versammlungen von Menschen werden nicht über Nacht enden. Und trotz Coronavirus werden sich die Menschen nicht mehr nur mit Demonstrationen, Online-Petitionen und stillem Gehorsam zufrieden geben. Auf Serbien warten turbulente Zeiten.“
Protest der Hilflosigkeit
Die Leute sind irritiert, meint Politikanalyst Sorin Ioniță in Libertatea:
„Jetzt ruft der Präsident heuchlerisch zur Ruhe und Vermeidung von Extremismus auf. Er, der seine gesamte politische Karriere auf einem nationalistischen und antieuropäischen Diskurs konstruiert hat, gespickt mit Verschwörungen, um Stimmen bei den radikalen Rechten ebenso wie bei den linken Narodniki einzuheimsen. … Das Publikum ist hingegen verwirrt, nachdem sich ein Promi wie [der Tennisspieler] Novak Djoković, die Nummer 1 der Weltrangliste, als Witzfigur, als eine Art Borat erwiesen hat, indem er Treffen zur kollektiven Ansteckung mit Covid-19 organisierte, vor der Nationalflagge. Die Bürger sehen jetzt keinen anderen Ausweg mehr als einen gewaltsamen Protest, ohne dass es irgendein Fünkchen Konsens gäbe, wie es nun weitergehen soll.“
Jugendliche, Familien, Hooligans
Die Motive der Demonstranten sind nicht ganz eindeutig, meint Azonnali:
„Die Wut wurde nicht alleine von den neuen Auflagen, sondern vor allem auch von der unverantwortlichen Politik des Regimes ausgelöst. Während es am Nachmittag mehrheitlich junge Menschen und Familien waren, die vor dem Parlament in Belgrad forderten, dass Vučić die Bevölkerung endlich über das wirkliche Ausmaß der Pandemie unterrichtet, tauchten abends schon die Fußball-Hooligans auf, die rechtsextremen Gegner des Regimes. ... Die [meisten] Gegner von Vučić wollen zwar ein freies Serbien - damit meinen sie aber einen Staat, der sich mit Moskau noch stärker verbündet und Kosovo zurückgewinnt.“
Falscher Anlass
Die Serben protestieren gegen ihr eigenes Interesse auf Gesundheit, meint die pro-russische Tageszeitung Duma und hat dafür kaum Verständnis:
„Bei aller Sympathie für das demokratische Recht der Bürger auf öffentlichen Protest können die Unruhen in Serbien kaum Verständnis und Unterstützung hervorrufen. Der Anlass ist schlichtweg falsch und sozial toxisch. Es geht um die geplante Verschärfung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus sowie um die erneute Verhängung der Ausgangssperre. Das erweckt den Eindruck, dass die Serben gegen ihr Recht auf Gesundheit demonstrieren. Sind sie etwa wütend, dass die Regierung ihnen nicht erlaubt, in Freiheit krank zu werden?“
Bürger fordern zu Recht eine Entschuldigung
Der Unmut der Bürger ist absolut verständlich, findet Népszava:
„Die Demonstranten sind wegen der von Vučić verordneten, von Freitag bis Montag dauernden Ausgangsperre in Belgrad auf die Straße gegangen. Eigentlich hat Vučić mit dieser Maßnahme Recht, denn in Serbien nimmt die Pandemie beängstigende Ausmaße an. ... Die Verantwortung für den Ausbruch der zweiten Welle trägt aber ausschließlich eine Person: Vučić. ... Anfang Mai wurden vorgezogene Wahlen am 21. Juni angekündigt. Von da an wurden plötzlich alle Auflagen aufgehoben. ... Der politische Nutzen war wichtiger als die Gesundheit der Menschen. Die Zahl der Infizierten stieg plötzlich stark an. Klar, auch den Demonstranten kann man einiges vorwerfen, doch ihre Wut ist verständlich. Von Vučić hätten sie nur ein einziges Wort erwartet, das aber umso sehnlicher: 'Entschuldigung!'“
Die EU glaubt, dass sie Vučić braucht
Wer glaubt, die EU würde sich nun auf die Seite von Vučićs Gegnern stellen, irrt gewaltig, meint Jutarnji list:
„Berechtigt oder nicht, die EU glaubt, dass sie Vučić braucht, um das Problem der Beziehung zwischen Serbien und dem Kosovo zu lösen. Dass außer ihm niemand in Serbien dieses Problem in näherer Zukunft lösen kann. ... Dafür braucht sie offensichtlich einen starken Vučić und toleriert ein Abgleiten Serbiens Richtung Totalitarismus. Auch einige Kreise innerhalb der EU kritisieren Vučić, doch diese stammen meist aus dem Lager der Opposition, sind gemäßigte Linke oder Liberale. Er hat die Unterstützung der Europäischen Union und vor allem der Europäischen Volkspartei als größter politischer Fraktion.“