Warum hält sich Putin in Belarus zurück?
Seit dem Beginn der Proteste nach der Wahl in Belarus schauen Beobachter immer wieder sowohl besorgt als auch erwartungsvoll nach Russland: Wie der Kreml reagiert, ist für das Schicksal des Langzeitpräsidenten Lukaschenka in Minsk essentiell, lautet die einhellige Meinung.
Putin darf Nachbarn nicht verprellen
Sollte Putin an Lukaschenka festhalten, wird er Belarus verlieren, glaubt Nina Chruschtschowa, Urenkelin von Nikita Chruschtschow in nv.ua:
„Selbst wenn sich Lukaschenka an der Macht halten sollte, hat er trotzdem seine Legitimität schon verloren, weil die Belarusen die Schläge, die Folter und sogar Mord, mit denen das Regime die Proteste unterdrückt hat, nicht vergessen können. Und sie werden das Schweigen des Kremls nicht vergessen. Jeder neue Protesttag verstärkt Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber dem Kreml, auch bei Menschen, die noch nie solche Gefühle hatten. Putin sollte sich offen mit der belarusischen Gesellschaft solidarisch zeigen, ist es jetzt doch wichtiger, bei der belarusischen Gesellschaft gut angesehen zu sein und nicht beim Lukaschenka-Regime. Denn dies würde die Chancen des Westens verringern, Belarus aus dem Einflussbereich des Kremls herauszuholen.“
Russophobe Front nicht verstärken
Auch Duma glaubt, dass der Weg für Putin nicht über Lukaschenka, sondern über die Opposition führt:
„Der Dialog bietet Minsk und Moskau die Möglichkeit, Schäden zu minimieren und zu verhindern, dass Belarus in die russophobe Mauer von Staaten fällt, die von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reicht. Es macht keinen Sinn, dass Belarus zum letzten antirussischen Dominostein wird, zumal die Mehrheit der Bevölkerung pro-russisch ist und die belarusische Wirtschaft tief mit der Russlands verflochten ist. Doch anstatt des Dialogs greift Lukaschenka zu den Waffen und ist sogar bereit, die Armee auf die Demonstranten zu hetzen. ... Sollte Putin sich dazu bereit erklären, ihm mit der Gewalt zu helfen, werden die Belarusen von Russophilen zu Russophoben werden. … Je mehr sich Lukaschenka als Macho aufspielt, desto weniger kann Russland einen Ausweg aus der Krise finden.“
Belarus ist Testlabor für den Kreml
Russlandforscher Vladimir Juschkin erklärt in Postimees, wie Putin in Belarus strategisch vorgeht:
„Der Kreml beobachtet die Situation und unterstützt offiziell bis zur letzten Minute Lukaschenka - aber aus der Ferne. Wenn der Kreml aber versteht, dass die Revolution unvermeidbar ist, wird er sich diesmal nicht gegen den Verlauf der Geschichte stellen, sondern wird versuchen, ihn in eine Richtung zu leiten, die ihm am besten passt. Anders gesagt - im kritischen Moment wird der Kreml Lukaschenka den Rücken zuwenden und auf jemand anderen setzen. Im Moment können wir den Verlauf der Dinge wie in einem riesigen Testlabor beobachten, in dem der Kreml neue Polittechnologien der Machtübernahme testet.“
Grund zur Sorge auch für andere Despoten
Anderen autoritären Regimen sollte das Verhalten Russlands Kopfschmerzen bereiten, meint hvg:
„Die autoritären politischen Führer, die Lukaschenka als ihren Freund bezeichnen, nehmen mit Sorge zur Kenntnis, dass das Minsker Regime, das Anfang dieses Sommers noch relativ stabil schien, vor ihren Augen zerfällt. ... Diese Freunde haben zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Wahlergebnisse praktisch sofort zum 'großen Sieg' gratuliert: der Staatschef der Türkei, Tayyip Erdoğan, der von Aserbaidschan, Ilcham Alijew, der von Tadschikistan, Emomali Rahmon, der von Moldau, Igor Dodon und der von Kasachstan, Kassym-Schomart Tokajew, haben als Erste ihre guten Wünsche geäußert. Dass Moskau seinem Verbündeten jetzt nicht zu Hilfe kommt, muss die Despoten erschrecken. “