Zerbricht das Vereinigte Königreich?
Die umstrittenen Strategien der britischen Regierung in den Brexit-Verhandlungen und im Kampf gegen die Corona-Pandemie haben die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Nordirland neu befeuert. Im August befürwortete erstmals eine Mehrheit der schottischen Bevölkerung eine Abspaltung. Kommentatoren wägen ab, ob Boris Johnson tatsächlich zum Totengräber des Königreichs werden könnte.
Neues Schottland-Referendum kaum abzuwenden
Laut Umfragen steuert die Scottish National Party SNP bei den Parlamentswahlen in Schottland im kommenden Mai einem Erdrutschsieg entgegen. Dann wird London den Schotten ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum wohl nicht verbieten können, meint New Statesman:
„Wenn der Eindruck entsteht, dass Schottland von den englischen Konservativen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert und gefangen gehalten wird, dann werden sich auch aufgeschlossenere Schotten abwenden. Der britische Sinn für Fairplay ist auch nördlich der englisch-schottischen Grenze stark ausgeprägt. Und es wird schwierig sein, daran festzuhalten, dass eine von den Wählern klar favorisierte SNP nicht das Recht auf ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum erworben hat. Darüber hinaus wird ein striktes Nein von Boris Johnson diejenigen innerhalb der SNP stärken, die neue Mittel und Wege finden wollen, unabhängig zu werden.“
Johnson auf den Spuren von Milošević
The Irish Times sieht ungute Parallelen zu den Entwicklungen in Jugoslawien und Serbien in den 1990er Jahren:
„Die Vorgehensweise an den Schaltstellen der Macht im Zentrum Großbritanniens verschärft die nationalistischen Spannungen und interkulturellen Ängste in den anderen Landesteilen. Das wiederum schwächt das Vereinigte Königreich als Ganzes. Das bedeutet nicht, dass Großbritannien in Krieg und Völkermord enden wird, wie es in Jugoslawien der Fall war. Es zeigt aber, dass Länder tatsächlich auseinanderbrechen können, und in der Regel bestimmt das Zentrum der Macht, in welcher Art und Weise diese Trennung vonstattengeht. Die Tschechen wählten die sanfte Tour und gegenseitiges Verständnis, die Serben Konfrontation und schiere Gewalt. ... London scheint auf Drama, Drohgebärden und Theatralik zu setzen.“
London sollte froh um Sturgeon sein
Trotz markiger Worte ist die aktuelle schottische Premierministerin keine radikale Unabhängigkeitskämpferin, analysiert Wiktor Konstantinow von Dserkalo Tyschnja:
„Nicola Sturgeon will offenbar nicht der schottische Carles Puigdemont werden und versucht, nicht über die Vorgaben der Verfassung hinauszugehen. Die Härte ihrer Äußerungen sollte nicht täuschen: Sturgeon nutzt die Radikalen als Druckmittel gegen London, aber selbst will sie den Rahmen der britischen Gesetzgebung nicht verlassen. ... Doch wenn es ihr nicht gelingt, die Probleme der Region in absehbarer Zeit auf die eine oder andere Weise zu lösen, wird ihre politische Karriere zu Ende gehen. ... Und an ihre Stelle werden radikalere Unterstützer der Unabhängigkeit treten. Der Fall Schottland zeigt, dass der Brexit für Großbritannien noch nicht vorbei ist.“