Waffenstillstand in Bergkarabach: Und jetzt?
Die Konfliktparteien in Bergkarabach haben sich auf einen Waffenstillstand und die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen geeinigt. Dies teilte Russlands Außenminister Lawrow am Freitag nach einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Armenien und Aserbaidschan mit. Dennoch kam es bereits am Wochenende wieder zu Angriffen. Nicht nur deshalb attestieren Beobachter der Einigung keine großen Erfolgsaussichten.
Baku hat Friedenswillen nur vorgetäuscht
Die Einigung scheint von vornherein keine tragfähige Lösung gewesen zu sein, meint Radio Kommersant FM:
„Im Vergleich zum Donbass nehmen die Verstöße gegen den Waffenstillstand gigantische Ausmaße an. Es entsteht der Eindruck, dass man - zumindest auf einer Seite - nie vorhatte, die Moskauer Vereinbarung einzuhalten. Das offenbart eine eigene und keineswegs überraschende Logik: Aserbaidschan als Initiator der Wiederaufnahme der Kämpfe am 27. September glaubt noch immer, seine Siegespläne realisieren zu können - zwar örtlich begrenzt, aber dauerhaft und unumstritten. Und erst dann möchte es unter Vorlage der eroberten Städte und Gebiete aus einer günstigeren Position heraus in Friedensverhandlungen treten.“
Das darf sich die Nato nicht bieten lassen
Nach dem Einsatz von Söldnern durch die Türkei muss die westliche Militärallianz Klartext reden, fordert Politiken:
„Die Türkei schickt syrische Soldaten nach Libyen und Aserbaidschan, und es ist bemerkenswert, dass Erdoğans Regierung behauptet, unschuldig zu sein. Doch man lasse sich bitte nicht für dumm verkaufen. Tatsache ist, dass die Türkei Söldner anheuert und dorthin bringt, wo sie in Konflikten eingesetzt werden können, die nicht die ihren sind. Dies müssen die Vereinten Nationen selbstverständlich verurteilen. Und in der Nato muss es knallharte, weit hörbare Kritik hervorrufen, dass ein Mitgliedsland eigene und fremde Söldner anheuert - zur Kriegsführung außerhalb des Territoriums der Allianz. Das ist skandalös.“
Kein Patt, kein Rückhalt, kein politischer Willle
Trud listet Faktoren auf, die Friedensgespräche normalerweise aussichtsreich machen würden:
„1. Das Eintreten einer Pattsituation. 2. Spielraum für eine mögliche Einigung. 3. Breite Unterstützung in den betroffenen Ländern, sowohl bei den Einheimischen als auch bei der Diaspora im Ausland. 4. Günstige geopolitische Umstände und die allgemeine Zustimmung der Großmächte, dass eine Lösung für diesen Konflikt erforderlich ist. 5. Politischer Wille und starke Führung auf beiden Seiten. Keiner dieser Faktoren ist im Bergkarabach-Konflikt derzeit gegeben.“
Potenzielle Energieblockade trifft Europa kaum
Der Energie-Fachmann des spanischen Elcano-Instituts, Gonzalo Escribano, analysiert in El País mögliche energiepolitische Auswirkungen des Konflikts:
„Wegen der europäischen Ziele der Klimawende braucht die EU immer weniger Gasimporte und auch immer weniger von den entsprechenden, häufig übertriebenen Infrastrukturen. Deshalb deutet alles darauf hin, dass die geopolitische Relevanz des südlichen Gaskorridors abnimmt und die Hoffnungen, das gescheiterte Projekt der Nabucco-Pipeline zusammen mit der Trans-Caspian Pipeline wieder aufzunehmen, sich nicht erfüllen werden. Der Einfluss einer eventuellen Blockade der Kaukasuspipeline auf die europäische Energiesicherheit scheint begrenzt. Eine Verlängerung des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan kann allerdings die Petroleum-Versorgung über das Kaspische Meer insbesondere für Länder wie Türkei, Israel und Italien gefährden.“
Wieder einmal heißt der Sieger Putin
Ob mit oder ohne Waffenstillstand, Moskau hat die Kontrolle über die Region, kommentiert Habertürk:
„Es sieht nun so aus, als hätten Putin und der ausgefuchste Politiker Lawrow die Rolle übernommen, einen vorläufigen Waffenstillstand zwischen den Beteiligten vermittelt zu haben. Aber im Grunde zieht wieder Moskau den größten Nutzen aus dem Bruch des Waffenstillstands. Denn Putin kann das Chaos als Vorwand nehmen, um sich wieder in der Region breitzumachen, oder er kann das Chaos vertiefen, um den Boden für ein [international anerkanntes] unabhängiges Berg-Karabach zu bereiten. Vor allem die Tatsache, dass das Gebiet sich im Herzen des Südkaukasus befindet, wo sich die Haupt-Energie-Routen der Region kreuzen, macht aus ihm ein wichtiges Zentrum. “
Armenien gehört in die EU!
Der Westen sollte die Armenier entschlossener unterstützen, drängt Historiker Jean-François Colosimo in Le Figaro:
„Unter allen westlichen Regierenden ist Präsident Macron der einzige, der Erdoğans Wettlauf Richtung Abgrund vehement verurteilt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Armenier kulturell immer europäisch waren und dass sie es heute durch das Blut, das sie zur Eindämmung der Barbarei vergießen, umso mehr sind. Wagen wir fortan einen Wunsch: Sollte der französische Staatschef seine Partner in Brüssel nicht dringend dazu aufrufen, Armenien in die EU aufzunehmen? Dies würde nicht Utopien befördern, sondern ein Zeichen setzen. Und endlich beweisen, dass Demokratie mehr erreichen kann als Krieg. Vorausgesetzt sie wagt es, die Wahrheit zu sagen.“
Armenien hat am Verhandlungstisch nichts zu melden
Der Waffenstillstand hat erhebliche Defizite, meint der Analyst Radu Carp in Adevărul:
„Das Problem ist, dass dieser Waffenstillstand keinen Rückzug von aserbaidschanischen Truppen und islamischen Terrorgruppen aus Berg-Karabach vorsieht. Das von Aserbaidschan und der Türkei bewilligt zu bekommen, dürfte für die Minsk-Gruppe äußerst schwer werden. ... Dieser Aspekt wird wahrscheinlich direkt zwischen Putin und Erdoğan diskutiert werden, als Teil eines Dialogs, zu mehreren Problemen, die beide Länder angehen. Aliyev, Erdoğan und Putin können sehr gut miteinander, alle teilen den Charakterzug des autoritären Anführers. Armenien kann sich an diesen Gesprächen, die sein Schicksal betreffen, nicht beteiligen, weil es eine Demokratie ist. ... Es kann nur auf seine traditionellen Beziehungen zu Russland und Frankreich setzen - und auf die Überzeugungskraft seiner Diaspora.“
Zurück zum Frozen Conflict
Radio Kommersant FM sieht nun ein Pokerspiel kommen, das sich hinziehen dürfte:
„Das Praktische an einem Waffenstillstand ist, dass man ihn bis in alle Ewigkeit verlängern kann - oder anders gesagt: Man kann den Konflikt in den eingefrorenen Zustand zurückführen. Außerdem bietet er für beide Seiten Anlass, ihren Sieg zu verkünden und dann zu versuchen, in den kommenden Gesprächen für sich die besten Bedingungen auszuhandeln. Im Prinzip geschieht das jetzt schon: Aliyev erklärte, seine Armee habe nie dagewesene Erfolge errungen: Die alte Frontlinie existiere nicht mehr, eine militärische Lösung hingegen schon. Doch zugleich ist klar, dass es kaum gelingen wird, ganz Karabach zu besetzen und die Armenier von dort zu vertreiben.“
Moskau ist schwächer, als es tut
Der Konflikt legt die Machtlosigkeit Russlands offen, analysieren die Russland- und Türkei-Spezialisten von NRC Handelsblad, Eva Cukier und Toon Beemsterboer:
„Das Eingreifen der Türkei bedroht die russische Machtposition in der Region. Putin muss etwas tun, um seinen Einfluss zu erhalten. Aber viele Optionen hat er nicht. ... Das Tempo, mit dem die Waffenruhe zerbricht, zeigt, dass die russische Position in der Region schwächer ist, als Moskau den Anschein erwecken will. Russland mag zwar formal ein Verbündeter von Armenien sein - es hat aber auch ebenso gute Beziehungen zu Aserbaidschan, mit dem es lukrative Waffen-Deals geschlossen hat. ... Außerdem ist die russische Teile-und-Herrsche-Strategie in der Region nicht gerade förderlich für das Vertrauen in Moskau als Vermittler.“