Corona: Wen zuerst impfen?
Auch Wochen nach Start der Impfkampagne in ganz Europa wird deren Strategie in den Kommentarspalten noch immer rege debattiert: Es gibt kein einheitliches Vorgehen und in jedem Land erregt etwas anderes die Gemüter der Journalisten.
Alte müssen Vorrang haben
In Portugals Impfplan spielt das Alter keine Rolle, was Visão stark kritisiert:
„Endlich gibt es einen Aufruhr der Bürger über die Kriterien des nationalen Impfplans, denn es wird nach wie vor als nicht vorrangig gesehen, nach dem Gesundheitspersonal Menschen über 80 zu impfen, wie man es bereits in anderen europäischen Ländern tut. … Es war bereits unhaltbar, als die Frage diskutiert wurde, den Streitkräften und der Polizei Vorrang einzuräumen und die größten Opfer von Covid an den letzten Platz zu stellen, Menschen über 70, die 90 Prozent der Corona-Todesfälle in Portugal ausmachen. Gibt es denn noch irgendwelche Zweifel, dass diese Impfung die absolute Priorität ist?“
Ressourcen nicht vergeuden
Im Gegensatz zu Portugal werden in der Türkei derzeit alte Menschen bevorzugt. Cumhuriyet hält das für absurd:
„Das medizinische Personal fährt mit riesiger Anstrengung durch Eis und Schnee, um in einem abgelegen Weiler einen 90-Jährigen zu impfen. Wen trifft der, von wem wird der sich das Virus einfangen? Aber der 30- bis 40-jährige Arbeiter, der in der Fabrik, auf dem Bau, in der Mine arbeitet und auf engem Raum produziert, in vollgestopften Bussen fährt und in der Kantine mit zehn Menschen Schulter an Schulter sitzt, ist noch nicht an der Reihe.“
Keine Chance ohne globale Gerechtigkeit
Die Gesundheitsberaterin Nuriye Ortaylı verweist in Yetkin Report auf eine aktuelle Studie der WHO:
„Man hat festgestellt, dass selbst wenn reiche Staaten ihre Bevölkerung durchimpfen würden, sie die Hälfte des anhaltenden wirtschaftlichen Verlustes tragen müssten, solange in anderen Staaten nicht geimpft wird. Der Verlust wird mit neun Billionen Dollar beziffert. Die Studie betont, dass alle Volkswirtschaften miteinander verbunden sind und daher die Auswirkungen der Pandemie nirgendwo beseitigt werden können, so lange sie nicht überall beseitigt werden. Dem kann ich etwas hinzufügen: Bevor das Virus nicht überall besiegt wurde, kann es nirgendwo besiegt werden. Sowohl die Wirtschaftswissenschaft als auch die Epidemiologie verweisen auf eine Wahrheit, nämlich Gerechtigkeit.“
Solidarisch bleiben
In Rumänien werden gut 30 Prozent der Impftermine nicht über das zentrale Onlineportal vergeben, sondern von den Leitungen der Impfzentren. Nun vermuten viele, dass sich dabei Jüngere vorgedrängelt haben, was Spotmedia als unmoralisch kritisiert:
„Wir können nicht überleben, wenn wir die opfern, die schwächer sind als wir, denn dann sind wir nicht mehr Teil einer Gesellschaft und können nicht mehr als zivilisierte Menschen wahrgenommen werden. … Wie kann jemand die Last tragen, einer älteren, kranken und alleinstehenden Person den Impfstoff weggenommen zu haben, nur um in den Urlaub fahren oder mit den Freunden auf ein Bier ausgehen zu können? … Die Stärke eines Individuums und einer Gemeinschaft sieht man in schweren Momenten und nicht, wenn es heiter ist.“
Die Politiker
Die Kleine Zeitung verteidigt den Plan steirischer Abgeordneter, sich im Februar gemeinsam impfen zu lassen, gegen aufkommende Kritik:
„[B]evor noch die Landesspitze nur eine Spritze von außen gesehen hat, grollt es in den Online-Foren. Tenor: Typisch, da drängeln sich die Privilegierten vor. Oder: Der Impfstoff wird anderswo dringender benötigt. Letzteres bezweifelt niemand. Aber die Regierer steigen ja nicht ins Impfstoff-Lager ein, um dort 'Stoff' ... zu ergattern. Oder setzen sich in Zivil in ein Grazer Seniorenheim, um dort Bewohnern die Pfizer-Dosis wegzuschnappen. ... Der ernst gemeinte Plan lautet doch, Zweiflern in den steirischen Reihen zu zeigen, dass man dem Wirkstoff vertrauen kann. Sinnvollerweise zu Beginn einer Impfkampagne und nicht am Ende.“
Nicht die im Home Office
Auch in Lettland wird die Frage diskutiert, ob Politiker schnell geimpft werden sollten, damit sie ihre Arbeit möglichst reibungslos machen können. Diena widerspricht:
„Zum Glück haben wir schon längst sichergestellt, dass die Minister, Abgeordneten und andere Beamte relativ gut mit modernen Technologien umgehen und ruhig aus dem Homeoffice arbeiten können. ... Wenn der Impfstoff in größerer Menge zur Verfügung steht, wäre es sinnvoll, wenn bestimmte Beamte den Impfstoff in einer Gruppenimpfung erhalten würden. Wenn ein Minister oder Abgeordneter die Schutzimpfung in einem Sozialzentrum erhält, im Rahmen einer größeren Impfkampagne, könnte das die Bewohner und Mitarbeiter auch zu einem solchen Schritt ermutigen. Dies wäre sowohl sozial verantwortlich als auch förderlich für die Impfkampagne.“
Dann halt nicht die Pfleger
In der Diskussion um die mangelnde Impfbereitschaft unter Pflegekräften erinnert die Journalistin Bettina Steiner in der Tageszeitung Die Presse daran, was diese im vergangenen Jahr durchgemacht haben:
„Sie waren dort, wo das Virus war, bei unseren bettlägrigen Großeltern. ... Es ist schwer zu verstehen, dass ausgerechnet jene, die das Sterben miterlebt haben und immer noch miterleben, ... sich der Impfung verweigern. Ich habe gehört, dahinter stecke auch Trotz. Dahinter steckten Enttäuschung und das Gefühl, wenigstens jetzt selbst entscheiden zu können, ... während dauernd andere entschieden haben, welches Risiko sie einzugehen hätten und unter welchen Bedingungen. ... Den Trotz der Pflegerinnen und Pfleger, den haben wir uns verdient. Wir sollten uns endlich anhören, was sie brauchen.“
Das Lehrpersonal
Angesichts dessen, dass es in der Türkei seit März keinen regulären Präsenzunterricht mehr gab, ist es inakzeptabel, dass Lehrer laut Plan erst sehr spät geimpft werden sollen, findet Kolumnistin Nagehan Alçı in Habertürk:
„Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, dass neben Ministeriumsangestellten auch Ordnungshüter und private Sicherheitsleute vor Lehrern geimpft werden? ... Mit dieser Logik scheint es schwierig, die Schulen bis zum Frühjahr wiederzueröffnen. Wenn wir ein Land sind, das sich um die Bildung unserer Kinder, also die künftigen Generationen dieses Landes kümmert, müssen wir Lehrer ganz oben auf diese Liste setzen. Ich flehe den werten [Bildungsminister] Ziya Selçuk an. Hauen Sie auf den Tisch, um die Kinder aus den Einkaufszentren, Supermärkten und Geschäften zu holen und zurück in die Schulen zu bringen und lassen sie die Lehrer an die Spitze der Impfliste schreiben.“
Die Jungen
Paris sollte bei der Impfstoffverteilung zukunftsorientiert denken, drängt Slate:
„Wie ist es zu rechtfertigen, dass man die jungen Menschen, die 'das Frankreich von morgen' sind, wie man so sagt, in die Qualen psychischen Leids stürzt, ohne sich weiter darum zu scheren? … Hier werden Menschen geopfert, aus mentaler, wirtschaftlicher und beruflicher Sicht. Und wem, denken Sie, wird die Verantwortung zukommen, Frankreich aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise herauszuführen, die uns in den nächsten zehn Jahren als Folge der Maßnahmen zur Bekämpfung der Gesundheitskrise zusetzen wird? … Macron hat es gesagt: Zuerst müssen die Gefährdetsten geimpft werden. Aller Logik nach sind das die Studierenden. Sobald sie immunisiert sind, können sie in das Leben zurückkehren und sind nicht länger die Bedrohung, die die Regierung seit Beginn der Krise in ihnen zu sehen scheint.“
Die Systemrelevanten
Blogger Jean-Marc Goffart plädiert in La Libre Belgique dafür, die Wiederbelebung der Wirtschaft auch bei der Impfstrategie im Blick zu haben:
„Wäre es nicht effizienter, prioritär die Personen zu impfen, die für andere verantwortlich sind? Eltern, Lehrer, die sich wieder um ihre Schüler kümmern und ihren Unterricht abhalten könnten, Arbeiter, Hersteller, Händler und all jene, die die Gesellschaft braucht, um wieder normal zu funktionieren? Wobei das medizinische Personal selbstverständlich absoluten Vorrang haben sollte. … Löhne würden wieder ausgezahlt, Selbständige fänden zu ihrem Einkommen zurück. Sozialleistungen könnten wieder heruntergeschraubt werden. Ältere Menschen würden sich freuen, ihre Angehörigen wiederzusehen, die nicht mehr befürchten müssten, sie anzustecken.“