Zehn Jahre Arabischer Frühling: Was bleibt?
Am 17. Dezember 2010 zündete sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Frust über seine Lebenssituation an. Die Bilder von der Selbstverbrennung verbreiteten sich in Windeseile über soziale Medien und aus spontanen Protesten gegen Willkür und Unterdrückung in Tunesien wurde eine Serie von Aufständen in Nordafrika und im Nahen Osten. Zehn Jahre später ziehen Europas Medien eine Bilanz der Arabellion.
Veränderung braucht Zeit
Der Kampf um Demokratie im arabischen Raum ist längst nicht verloren, meint Politiken:
„Damals wie heute sind Hoffnungsschimmer zwar schwer erkennbar. Autokraten von Präsident al-Sisi in Ägypten bis hin zu Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien haben alle Proteste niedergeschlagen und sitzen augenscheinlich sicher im Sattel. Der Arabische Frühling ist nicht die Antwort des Nahen Ostens auf Osteuropas 1989 geworden, wie viele gehofft hatten. Aber vielleicht war der Vergleich mit 1989 gar nicht passend und der Arabische Frühling ähnelt eher den Revolutionen in Europa 1848. Einer Woge, die zwar in den meisten Ländern bald erstickt wurde, auf längere Sicht aber einen Funken entzündete und innerhalb einer Generation in die Demokratie mündete. ... Veränderungen brauchen ihre Zeit, nicht zuletzt im Nahen Osten, wo die Bevölkerung jahrhundertelang, teils jahrtausendelang unterdrückt war.“
Rote Teppiche für al-Sisi
Der Westen schaut vor allem auf sich selbst, kommentiert Rzeczpospolita:
„Der blutige Krieg in Syrien ist noch nicht vorbei, aber es ist klar, dass der Diktator Assad, den der Westen als größten Verbrecher der heutigen Welt zu isolieren versprochen hat, gewonnen hat. Keine der arabischen Monarchien ist gefallen. Im kleinen Bahrain stand sie kurz vor dem Ende, wurde aber durch die Intervention starker Nachbarn gerettet. ... Der Westen hat sich mit der Konterrevolution abgefunden, während er gleichzeitig der tunesischen Demokratie auf die Schulter klopft. ... Neue und alte Autokraten halten die Einwanderung zurück, die Europa überfluten könnte. Und wie bei den Europäern ist es auch in ihrem Interesse, den islamischen Radikalismus und Terrorismus zu stoppen. Deshalb werden vor dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi rote Teppiche ausgerollt.“
Bittere Bilanz
Nur ein Land hat einen Schritt in Richtung Demokratie geschafft, analysiert Phileleftheros:
„Heute ist die Bilanz der Aufstände von 2010 bitter, denn das einzige Land, das stolz auf seinen Erfolg sein kann, ist Tunesien, das trotz seiner Probleme den Weg zur Demokratie gefunden hat. Der Rest der Länder ist entweder in einen Bürgerkrieg geraten, wie Syrien, Libyen und Jemen, oder hat autoritäre Regime wieder aufgebaut, wie Ägypten und Bahrain. In den meisten Fällen haben sich extremistische islamistische und salafistische Kräfte durchgesetzt und die Träume von der Demokratisierung zerplatzen lassen. Die unerfüllten Erwartungen an den Arabischen Frühling künden denn auch eher von einem arabischen Winter.“
Zu früh für ein Urteil
Ein Blick in die Geschichte gibt Anlass zur Hoffnung, so die Neue Zürcher Zeitung:
„Was die arabische Welt derzeit erlebt, sind Umbrüche, die Jahrzehnte dauern. Natürlich können sie am Ende auch scheitern, für ein solches Urteil ist es heute aber noch zu früh. Die Umwälzungen sind vergleichbar mit den Revolutionen von 1848/49, mit denen sich Gesellschaft, Wirtschaft und Herrschaftssysteme in Europa grundlegend veränderten. Interessanterweise hielten die Zeitgenossen diese damals ebenfalls für gescheitert. ... Auch in Nordafrika und im Nahen Osten gibt es heute Hoffnungsschimmer. Die Ereignisse von 2010/11 haben den Menschen Alternativen aufgezeigt. Jeder zweite Araber ist unter 25 Jahre alt. Diese junge Generation erwartet von den Regierenden mehr als einst ihre Eltern und Grosseltern. Sie wollen politisch, sozial und wirtschaftlich teilhaben. ... Unter der Oberfläche brodelt es weiter.“
EU hat nur leere Versprechungen gemacht
Daran, dass die meisten arabischen Staaten in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise stecken, tragen auch die EU und die USA eine Mitschuld, meint das Handelsblatt:
„Nach den Umstürzen von Tunis, Sanaa und Kairo machten sie große Versprechungen. Die Wirklichkeit ist indes beschämend. Der Mini-Napoleon Emmanuel Macron hat zuletzt sogar in Paris den Schlächter von Kairo, Ägyptens Präsident al-Sisi, mit dem höchsten Orden Frankreichs dekoriert. Ansonsten wurden weder Europas Märkte wirklich geöffnet für Waren aus Nordafrika, noch wurde ein großes Programm gestartet, deutsche oder europäische Firmen zu Investitionen in diesen Ländern aktiv zu ermuntern. ... Und so sitzen nun immer mehr junge Tunesier und Marokkaner auf den Booten zur gefährlichen Überfahrt nach Norden.“
Europas Sicherheit steht auf dem Spiel
Die Lunte am Pulverfass brennt weiter und Europa muss darauf reagieren, meint El Mundo:
„Der Arabische Frühling ist vielfach in einen harten Winter umgeschlagen, großenteils verschuldet durch den radikalen Islamismus. Die internationale Staatenwelt reagierte, indem sie sich wieder einmal auf die Seite des altbekannten Übels stellte, also den Status Quo stützte. Aber der Nahe Osten bleibt ein Pulverfass, solange politische Veränderungen den Bürgern keine menschenwürdigen Bedingungen bieten. Und aufgrund seiner geografischen Nähe steht für Europa dabei die eigene Sicherheit auf dem Spiel.“
Der Westen sollte sich schämen
Für das Webportal Iefimerida ging das Mitmischen des Auslands bei den Aufständen nach hinten los:
„Der Westen erkannte nicht, dass sein eigenes Lebensmodell nicht der Traum der arabischen Völker ist. Statistische Studien haben gezeigt, dass nur fünf bis zehn Prozent der Araber die westliche Lebensweise mögen, also lehnt die überwiegende Mehrheit sie ab. Ihre Kultur, ihre sozialen Gewohnheiten, ihre Sitten und Gebräuche, selbst die Art und Weise, wie sie Politik denken und anwenden, unterscheiden sich von denen der westlichen Welt. Warum wollen westliche Führer soziale Modelle durchsetzen, die die direkt Betroffenen ablehnen? Der Westen und seine Führer müssen sich zumindest schämen angesichts der Katastrophen, die sie den Völkern dieser Länder mit dem 'Arabischen Frühling' zugefügt haben.“