Wie wirkt sich der Brexit auf Dauer aus?
Nach Ende der Übergangsfrist hat Großbritannien zum Jahresbeginn den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Mit einem Abkommen in letzter Sekunde verhinderten London und Brüssel einen No-Deal-Brexit. Mit den langfristigen Auswirkungen auf beiden Seiten des Kanals beschäftigen sich die europäischen Medien.
Dänemark braucht einen neuen Freund
Großbritannien war traditionell ein enger Verbündeter Dänemarks in der EU. Der Nordschleswiger, Zeitung der deutschen Minderheit in Dänemark, empfiehlt eine Zuwendung zu Deutschland:
„Die Dänen müssen sich in der EU neue Verbündete suchen. Zunächst scheint die Wahl auf kleine Länder wie Österreich und die Niederlande gefallen zu sein, aber ... [w]ie wäre es nach dem britischen 'Goodbye' mit einem deutschen 'guten Tag'? Der neue starke Verbündete Dänemarks ist ein echter Nachbar und ein wahrer Freund, aber eben auch mit Sieben-Meilen-Stiefeln in der EU unterwegs. Wirft Dänemark die letzten Hemmungen über Bord und macht die deutsche EU-Reise mit und trägt mit eigenen Visionen zur Entwicklung der EU bei, statt als Hinterbänkler nur zu mosern? Denkbar ist es, dass Dänemark nach Großbritannien auch einen neuen Weg einschlägt – aber innerhalb der Gemeinschaft.“
Frankreichs Einfluss steigt
Für Neatkarīgā ist Frankreich nach dem Brexit das neue politische Schwergewicht der Union:
„Es ist jetzt klar, dass die wirtschaftlichen Folgen des Brexit erheblich geringer sind als die wirtschaftlichen Folgen von Covid-19. Aber der Austritt Großbritanniens hat erhebliche Auswirkungen auf die politischen Prozesse in der EU. Deutschland, das immer die dominierende Wirtschaftsmacht der Europäischen Union war, wird dies auch bleiben. ... Aber mit dem Austritt Großbritanniens hat der Einfluss Frankreichs auf den Ausgang von Entscheidungen zugenommen. Darüber hinaus ist es momentan der einzige Staat in der EU mit Atomwaffen, verfügt über das größte militärische Potenzial und ist auch das einzige EU-Mitglied mit einem Vetorecht im Uno-Sicherheitsrat.“
Solche Entwicklungen dauern
Die Trennung Großbritanniens von der EU bleibt ein sehr langsamer Prozess, prophezeit Denis MacShane, ehemaliger Europaminister unter Tony Blair, in Libération:
„Der Brexit ist mit dem 31. Dezember noch nicht zu Ende. Das Wort 'Brexit' habe ich 2012 zum ersten Mal verwendet, und ich habe jetzt einen Nachfolgebegriff erfunden, 'Brexeternity', weil die Europafrage für die Engländer noch jahrzehntelang ein Thema sein wird, so wie es bei der 'irischen Frage' der Fall war. Diese Formel wurde erstmals 1844 von Benjamin Disraeli im Unterhaus verwendet. Es dauerte mehr als ein Jahrhundert, um eine Antwort zu erhalten!“
Wirtschaftsrealismus setzt sich durch
Langfristig werden sich die Handelsbeziehungen kaum ändern, glaubt Corriere del Ticino:
„Kurzfristig mag es einige Hindernisse geben, und die Kosten der Wirtschaftsbeziehungen werden steigen, aber London wird kaum in der Lage sein, seine Handelsgeographie zu revolutionieren. Selbst wenn im britischen Export-Import der Anteil der EU in den kommenden Jahren eine weitere Einschränkung erfahren sollte, ist - darauf deuten die Wirtschaftsdaten hin - ein Abstieg des EU-Raums zu einem zweitrangigen Partner sehr unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Wenn überhaupt, werden das Vereinigte Königreich und die EU in Zukunft wahrscheinlich weitere wirtschaftliche Vereinbarungen treffen müssen. Wenn auch spät und unvollständig, so war der Post-Brexit-Deal doch zumindest ein Akt in Richtung eines gewissen wirtschaftlichen Realismus.“
Brüssels süße Rache
Das schottische Parlament hat Londons Last-Minute-Brexit-Vertrag mit der EU abgelehnt und Premierministerin Sturgeon hat einen neuen Anlauf für ein Referendum über die schottische Unabhängigkeit angekündigt. Ria Novosti geht davon aus, dass die EU diesmal in dieser Frage nicht neutral bleiben wird:
„London kann die schottische Unzufriedenheit nicht abpuffern. ... Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Brexit irgendwann einmal als Gewinn für das Vereinigte Königreich erweisen wird, aber vorerst ist kaum mit Verbesserungen zu rechnen. ... Großbritannien hat der europäischen Einheit einen schweren Schlag versetzt. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die EU das London so schnell nicht verzeihen und jede Gelegenheit für eine Replik nutzen wird. Und eine süßere Rache als den Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich kann man sich kaum vorstellen.“
Sympathiepunkte verloren
Mit einer ganz anderen Dimension der Brexit-Folgen beschäftigt sich Chefredakteur Bogusław Chrabota in Rzeczpospolita:
„Abseits der 'harten' Politik gibt es auch die persönliche, rein menschliche Perspektive. Ich war London und Oxford gegenüber freundlich eingestellt. Der englische Stolz und die Selbstgerechtigkeit ließen mich schmunzeln. Ich drückte ein Auge zu. Heute belustigen und irritieren sie mich, vor allem aber langweilen sie. Obendrein habe ich den Drang verloren, den Kanal zu überqueren. Wann ich das alte Königreich wieder besuchen werde? Wohl nicht so bald. Vorher werde ich wahrscheinlich nach Edinburgh reisen, um die Unabhängigkeit meiner schottischen Kollegen zu feiern.“
Erasmus und das Ende der 'sexuellen Integration'
Dass Großbritannien nicht mehr am Erasmus-Programm teilnehmen wird, bedauert Helsingin Sanomat:
„Eine der traurigsten Folgen des EU-Austritts der Briten ist der Rückzug aus dem Studentenaustauschprogramm Erasmus der Europäischen Union. Premier Boris Johnson hat den Rückzug mit den hohen Kosten des Programms begründet. … Das 1987 in Leben gerufene Erasmus-Programm bedeutete für die europäischen Studenten praktische Integration. Neun Millionen Studenten nahmen an dem Programm teil, von denen nahezu jeder vierte dort seinen oder ihren Lebenspartner/in gefunden hat. Der italienische Schriftsteller Umberto Eco hat Erasmus gar als Europas 'sexuelle Integration' bezeichnet. Indem Großbritannien das Programm verlässt, kappt es nicht nur sein Band zur EU, sondern auch zu den übrigen Europäern.“