Corona und unser Umgang mit dem Tod
Bereits zum Frühstück bekommen viele Menschen die Zahlen der Corona-Toten als Eilmeldung auf ihr Smartphone oder hören sie im Radio. So bringt sich der Tod wieder stärker ins Bewusstsein - auch bei denen, die bisher keine Angehörigen oder Freunde an das Virus verloren haben. Was macht das mit der Gesellschaft? Und ist es nicht auch legitim, den Tod zu verdrängen?
Nichts als anonyme Zahlen
Mit Gleichgültigkeit reagieren die Menschen auf die andauernd hohen Todeszahlen, beobachtet der Kolumnist Kostas Giannakidis in Protagon:
„Sie verursachen keinen Schock oder Schmerzen. Im Gegenteil, die Fotos der Gräber stören uns. Ab einem bestimmten Punkt werden die Toten zu Statistiken. ... Mit Ausnahme einiger Fälle erfahren wir nichts über ihre Identität. Die Daten zeigen, dass ihr Durchschnittsalter 79 Jahre beträgt und 96 Prozent eine Grunderkrankung hatten. ... Der Tod in diesem Alter macht Fremden keine Angst. Es ist eine Version des Rassismus gegen das Alter.“
Durch Medien mystifiziert
Der Tod war eigentlich aus dem Alltag des modernen Menschen verschwunden, schreibt der Anthropologe Iwajlo Ditschew in Club Z:
„Bis Covid-19 auftauchte und damit die Bilder von Leichenschauhäusern, überfüllten Krankenhäusern, blau angelaufenen Menschen, die auf Krankenwagen warten. … Für die überwiegende Mehrheit von uns ist der Tod keine unmittelbare physische Realität, er dringt als Medienbild in unser Leben ein. Der Tod ist keine persönliche Erfahrung, sondern eine abstrakte Angst. … Im Medienbild nimmt der Tod neue Dimensionen an: Ein unheilvolles Virus hält die gesamte Menschheit in Bann. Eine himmlische Wissenschaftsarmee kämpft gegen die unbesiegbaren Naturkräfte, die es hervorbringen. Angesichts dieser mythischen Szenen fühlen wir uns klein und hilflos.“
Verantwortung macht elend
Dass unsere Gesellschaft den Tod zunehmend verdränge, ist ein Mythos, entgegnet die Philosophin Barbara Bleisch im Tages-Anzeiger:
„Noch vor hundert Jahren gab es nicht einmal Antibiotika. Der Tod raffte die Menschen dahin, und sie hatten ihm wenig entgegenzusetzen. Heute überfällt uns der Tod nur noch selten hinterrücks. Viel häufiger erfolgt das Sterben langsam. Im Lauf dieses Prozesses kann vieles getan oder unterlassen werden. ... Entscheidungsfreiheit eröffnet immer willkommene Gestaltungsspielräume. Sie nimmt uns aber auch in die Verantwortung, uns und anderen gegenüber Rechenschaft darüber abzulegen, warum wir diese Räume so und nicht anders genutzt haben. Dass die Corona-Opferzahlen uns so beelenden, ist nicht dem Umstand geschuldet, dass wir den Tod verdrängt hätten - sondern dem Umstand, dass wir wissen, dass zumindest ein Teil der Todesopfer hätte vermieden werden können.“
Wir brauchen mehr Sorglosigkeit
Profil-Kolumnistin Elfriede Hammerl kritisiert Aufrufe, uns unserer Sterblichkeit bewusst zu werden:
„[E]s wäre nicht auszuhalten, sich das Unvorstellbare ständig vorzustellen. Darum macht es mich ziemlich sauer, wenn ich aufgefordert werde, die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz nur ja nicht aus den Augen zu verlieren, denn es ist legitim, sie zeitweilig auch zu vergessen. ... Die Hungernden in weiten Teilen der Welt, die Terrorisierten, die Vertriebenen, die Rechtlosen wurden und werden ständig auf ihre Sterblichkeit gestoßen. Vielleicht sollte man ... nicht zum Nachdenken über unsere Endlichkeit aufrufen, sondern zum Nachdenken darüber, wie man mehr Menschen zu mehr Sorglosigkeit verhelfen kann. Damit sie ihre Sterblichkeit getrost für eine Weile vergessen können.“