Impfstoff für die EU: Zu wenig, zu spät, zu billig?
Die Kritik an Europas Vorgehen bei der Impfstoffbeschaffung hält auch nach dem weitgehend beigelegten Streit mit Astrazeneca weiter an. Komissionspräsidentin von der Leyen räumte inzwischen Fehler ein, verteidigte jedoch die gemeinsame Beschaffungsstrategie. Europas Kommentarspalten bilden die Kontroverse exemplarisch ab.
Vieles richtig gemacht
Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, verteidigt die EU-Strategie in einem Gastkommentar für Die Presse:
„Zu spät entschieden, zu zögerlich verhandelt, zu wenig bestellt. So oder so ähnlich lautet derzeit die Kritik an der gemeinsamen Impfstoff-Beschaffung der EU und ihrer 27 Mitgliedstaaten. ... Keine Frage: Die Verhandlungen hätten schneller und vorausschauender geführt werden sollen, die Zulassung rascher erfolgen sollen. Aber die EU ist eben kein Nationalstaat. ... Hätten wir mehr Impfstoffe bestellen sollen? Nicht wirklich. ... Eine noch größere Bestellmenge hätte die Produktion auch nicht beschleunigt. ... Im Nachhinein weiß man vieles besser, und womöglich haben alle Akteure Fehler gemacht. ... Aber aller Kritik zum Trotz: Der gemeinsame Ansatz war der richtige.“
Jeder für sich wäre doch besser gewesen
Irish Examiner hingegen kann dieser Argumentation nicht folgen:
„Die EU-Kommission hat die Bereitstellung von Covid-19-Impfstoffen in der gesamten EU gehörig verbockt. ... Auch diese Woche weigerte sich Ursula von der Leyen wieder, die persönliche Verantwortung für die langsame Einführung zu übernehmen. ... Sie beharrt auch weiter darauf, dass es der richtige Ansatz sei, als Gemeinschaft die Verhandlungen zur Lieferung von Impfstoffen zu führen. Das widerspricht der Realität. Einzelne Länder wie Großbritannien, Israel und sogar das winzige Island haben es weitaus besser gemacht.“
Alleingänge nutzen nur Big Pharma
Die EU jetzt wieder zum Sündenbock zu machen, schadet am Ende aber den Falschen, findet De Standaard-Kolumnist Paul Goossens:
„Zum ersten Mal in der Geschichte der Union konnten die Pharma-Firmen ihr bekanntes 'divide et impera' nicht anwenden und die Mitgliedstaaten nicht gegeneinander ausspielen. Das hat den europäischen Bürgern wohl hunderte Millionen gespart, und wird ihnen in der Zukunft wahrscheinlich ein Vielfaches davon sparen. Zumindest, wenn die gemeinsame europäische Einkaufspolitik fortgesetzt und ausgebaut wird. Dass das geschieht, ist alles andere als sicher. Denn das hieße mehr europäische Befugnisse und weniger exorbitante Gewinne für den Pharma-Sektor. Einige haben damit Probleme und wollen die Chance nicht verpassen, dass die Union auf die Nase fällt. Dass dann vor allem die kleineren Länder die Dummen sind, liegt auf der Hand.“
Gemeinsame Beschaffung ginge auch anders
Dass in Krisen jeweils die Stunde der EU schlägt, gilt hier jedenfalls nicht, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Das war in der Euro-Krise sicher noch der Fall, in der Flüchtlingskrise schon etwas weniger. In der Pandemie erscheint es nach den jüngsten Erfahrungen nicht zwingend. ... [E]in Wettlauf wäre auch vermieden worden, wenn Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande wie ursprünglich geplant die Bestellung des Impfstoffs für Europa auf den Weg gebracht hätten. ... [E]ines ist gewiss: In absehbarer Zukunft wird es in der EU keine politischen Mehrheiten für Vertragsänderungen geben, die aus der Kommission eine voll handlungsfähige Regierung machen. Deshalb wird es weiter nötig sein, dass sich auch die Mitgliedstaaten um das europäische Geschäft kümmern - vor allem in Notlagen.“
Alle zusammen statt jeder für sich!
Le Monde bedauert, dass die Verantwortlichen den Ausweg aus dieser schwierigen Situation nicht gemeinsam suchen:
„Die EU ist für gesundheitliche Notfälle dieses Ausmaßes schlecht ausgerüstet. Alle tappen im Dunkeln und machen unweigerlich Fehler. Schade, wenn politische Interessen und geopolitische Rivalitäten Vorrang vor dem Thema haben, das niemand aus den Augen verlieren sollte: möglichst viele Menschen zu impfen, in Europa und dem Rest der Welt. Das war das ursprüngliche Ziel der EU, die im Impfstoff ein 'globales öffentliches Gut' sah. Es ist an der Zeit, zu diesem Ziel zurückzukehren, durch eine Zusammenarbeit ohne Hintergedanken von Regierungen und Pharmaindustrie.“
Mehr Staat, nicht weniger!
Die Wiener Zeitung ist nicht überrascht, dass die Pharmakonzerne mit den Impfstoffgroßlieferungen noch Zeit brauchen:
„Kein Vorstandsvorsitzender kann ... argumentieren, warum er den Bau von Produktionsanlagen für einen Impfstoff in Auftrag gibt, von dem er nicht einmal weiß, ob er jemals funktionieren wird. Betriebswirte achten eben auf Profitabilität und Rentabilität. Volkswirte würden eine andere Rechnung aufstellen: Die Kosten der Pandemie gehen in die Fantastilliarden. Also kommt es auf ein paar hundert Millionen an möglichen Fehlinvestitionen nicht an – es gab schon sinnlosere Projekte als ein paar Impfstoff-Fabriken, die nach dem Ende der Pandemie unnütz in der Landschaft stehen. Die Politik braucht nun also den Mut, massiv ins Wirtschaftsgeschehen einzugreifen. ... Ein guter Denksport für die nächste Herausforderung, die auf die Menschheit wartet: der Klimawandel.“
Ein europäischer Triumph
Gar keinen Anlass für Kritik sieht das Webportal Capital:
„Die Impfraten in den EU-Mitgliedstaaten sind homogen. Sie reichen von 1,5 Prozent in den 'reichen' Niederlanden bis zu 6,29 Prozent im 'kleinen' Malta, der Großteil liegt zwischen 2 und 4 Prozent. Beim Thema Impfung sind Populismus und billige Kritik nicht angebracht. ... Die Europäer haben sich - zumindest in diesem sehr kritischen Bereich der öffentlichen Gesundheit - wie Europäer verhalten. Die Mächtigen und Reichen wie Deutschland, Frankreich und die Niederlande hätten auch eine nationale Strategie wählen und ihre eigenen Bürger vor die Griechen, Portugiesen oder Bulgaren stellen können.“