Streit um Zollkontrollen: Unmut in Nordirland
Nur einen Monat nach dem Brexit wird Nordirland erneut zum Streitpunkt. Zum einen hatte die EU zwischenzeitlich Kontrollen an der inneririschen Grenze erwogen, um die Ausfuhr von Astrazeneca-Impfstoff zu verhindern. Zum anderen zog Brüssel seine Kontrolleure an den nordirischen Häfen vorübergehend ab. Auslöser waren Drohungen von pro-britischen Unionisten, die gegen die Kontrolle von Waren aus Großbritannien opponieren.
London darf nicht zündeln
Offenbar würde London gerne das Brexit-Abkommen für Nordirland aushebeln, kritisiert The Irish Independent:
„Großbritanniens Wunsch, die EU verlassen, ist zu respektieren. Doch das Land hat nun die Form der Beziehung mit der EU anzuerkennen, auf die es sich mit Brüssel geeinigt hat. Ultimaten zu setzen oder spalterische Kampagnen zu unterstützen, führt nur zu weiteren Spannungen. Die Bedrohung durch unheilvolle paramilitärische Gruppierungen in Nordirland muss bekämpft werden. Da darf es kein Nachgeben geben, das haben wir hinter uns. ... Die Schwierigkeiten und Verzögerungen bei Fracht und Importen sind bedauerlich. Sie können mit ein wenig Flexibilität und gutem Willen behoben werden - nicht mit Drohungen oder Einschüchterungen.“
Auf keinen Fall erpressen lassen
Die EU muss Fehler eingestehen, darf aber nicht einknicken, warnt El País:
„London will die Situation nutzen, um der EU die Schuld für die durch den Brexit verursachte und langsam erkennbare unangenehme Lage der Nordiren zu geben und eine Neuverhandlung des Abkommens zu forcieren. ... Die 27 Mitgliedsstaaten müssen auf sinnvolle Forderungen eingehen, um spezifische Probleme zu lösen. Aber man darf das System nicht ändern, weder aufgrund von Drohungen vor Ort, noch auf Druck Johnsons. Die EU-Kommission hat einen Fehler begangen. Und ihn schnell korrigiert. ... Aber das darf keinen Vorwand für eine Erpressung liefern, deren Ziel es ist, die Brexit-Wirklichkeit ein paar weitere Monate vor den Nordiren und den übrigen Briten zu kaschieren.“
Spannungen schaden allen Beteiligten
Auch Le Monde mahnt Kooperation statt Konfrontation an:
„Ein solcher Leichtsinn wirft Fragen über das Funktionieren, die Kohärenz und die Verantwortlichkeit der europäischen Exekutive auf. ... Eine Eskalation der Streitigkeiten zwischen London und den siebenundzwanzig EU-Staaten muss unbedingt vermieden werden, nicht nur, um den Frieden in Irland zu erhalten, sondern auch, sondern auch, um beiden Seiten schadende Rangeleien zu vermeiden. Die Konfrontation um die Impfstoffe verdeutlicht: Großbritannien ist jetzt ein Konkurrent der EU. Das ist eine logische Folge des Brexit. In dieser neuen Situation muss die Europäische Union ihre Interessen ohne Schwäche verteidigen und darf dabei nicht vergessen, dass Geografie und Geschichte die Briten und Europäer zur Zusammenarbeit verdammen.“
Hardlinern nicht das Feld überlassen
Sowohl Brüssel als auch London sollten auf Deeskalation setzen, appelliert Financial Times:
„Wenn die beiderseitige Verbitterung nach den Brexit-Verhandlungen nachlässt, besteht die Möglichkeit, Kompromisse einzugehen. Für die EU könnte dies bedeuten, Übergangsfristen und Ausnahmen von Vorschriften zu verlängern, die für die gesamte irische Insel gelten. Großbritannien könnte erwägen, so wie die Schweiz EU-Vorschriften zur Lebensmittelhygiene zu übernehmen, um die Spannungen an der Grenze zu verringern. Die EU und das Vereinigte Königreich sollten sich ständig die Empfindlichkeiten der Bevölkerung in der Provinz vor Augen halten. Eines darf jedenfalls nicht sein: Dass unionistische Hardliner bestimmen, ob das Brexit-Abkommen in gutem Glauben umgesetzt wird.“
Vereinigung mit Dublin wäre nur logisch
Die Nordiren sollten das Vereinigte Königreich verlassen - erst recht, wenn auch Schottland diesen Weg wählen sollte, argumentiert Brendan Boyle, Abgeordneter im US-Repräsentantenhaus, in The Irish Times:
„Ein Nordirland, das nur mit Wales und England in einer Union bleibt, wäre eine eigenartige Sache - insbesondere angesichts der vielen Menschen in Nordirland, die sich nur aufgrund ihres schottischen Erbes als Briten identifizieren. ... Außerdem ist das wirtschaftliche Argument für die irische Einheit überzeugend. Der Status quo hat für Nordirland nicht funktioniert. Vor einem Jahrhundert war Nordirlands Wirtschaft doppelt so groß wie die des übrigen Irlands. Heute ist die Wirtschaft der Republik Irland sechsmal so groß wie die des Nordens.“
Das Gespenst der Gewalt geht wieder um
Es muss umgehend eine Lösung gefunden werden, zeigt sich Corriere della Sera besorgt:
„Die Wunde, die so gut wie möglich verbunden wurde, droht nur einen Monat nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union schmerzhaft wieder aufgerissen zu werden. Und damit taucht auch das Gespenst der politischen Gewalt wieder auf, in einem Land, das Jahrzehnte des Bürgerkriegs und Tausende von Toten erlebt hat. Das Problem ist so einfach wie unlösbar: Mit der Scheidung Großbritanniens von der EU sind die Zölle wieder da; aber die Säule des Friedens in Nordirland ist genau die Eliminierung einer physischen Grenze zur Republik Irland im Süden. ... Es wäre gut, wenn so schnell wie möglich eine Lösung gefunden werden könnte: Denn die Geschichte ist eine Mahnung, nordirische Traumata nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.“