Verwunderung über Deutschlands Schlingerkurs
Bundeskanzlerin Merkel hat am Mittwoch einen erst am Montag beschlossenen fünftägigen Oster-Lockdown zurückgenommen. Sie entschuldigte sich bei den Bürgern dafür, dass die Entscheidung nicht durchdacht gewesen sei. Europas Kommentatoren blicken teils erstaunt, teils besorgt auf die zunehmend kopflos wirkende deutsche Pandemiepolitik.
Politikverachtung wird zunehmen
Der Politikwissenschaftler und Deutschlandexperten Gian Enrico Rusconi sieht in La Stampa einen grundlegenden Vertrauensverlust in staatliche Institutionen:
„Der Kampf gegen die Pandemie wird als eine spezifische Aufgabe des Staates als Institution in seiner Gesamtheit gesehen. ... Folglich betrifft die Unzufriedenheit mit dem unzureichenden Management der Pandemie den Staat als solchen. Das traditionelle Vertrauen der Deutschen in die Kompetenz des Staates ist angeschlagen wie nie zuvor. ... Es besteht die Gefahr, dass auf lange Sicht die Verachtung der Politik dominant, hegemonial wird. ... Über Jahre hinweg war - auf Grund ihrer Rolle und Persönlichkeit - Bundeskanzlerin Angela Merkel Synonym für die deutsche Politik. Ihre aktuellen Schwierigkeiten im Umgang mit der Pandemie scheinen sich also auf die gesamte politische Klasse zu erstrecken.“
Wankelmut erzeugt Panik
In einer Krisensituation wie jetzt ist Führungsstärke wichtiger als das Bestreben, immer die richtige Entscheidung treffen zu wollen, erklärt Ria Nowosti:
„Wenn die Führungsmacht und das wohlhabendste Land der EU in diese Fahrspur rutscht, sollte man sich Sorgen machen. ... Eine alte Weisheit sagt, dass ein rennender General in Friedenszeiten Lachen erzeugt, in Kriegszeiten jedoch Panik. In Blick auf die Lenkung von Staaten ist das nicht weniger zutreffend. In einer Krisensituation werden sogar falsche Entscheidungen, die stringent und äußerlich ruhig durchgezogen werden, weniger Schaden anrichten als Wankelmut, offenbare Ratlosigkeit und Unprofessionalität der Verantwortlichen.“
Selbst Europas Primus scheitert
La Croix empfiehlt den nörgelnden Franzosen einen Blick über den Rhein:
„Dieses Zurückrudern und das mea culpa sind umso spektakulärer, als sie von der erfahrensten Regierenden Europas stammen. 'Selbst sie', könnte man sagen. ... Das sollte in Frankreich, wo unsere exzessive Selbstkritik uns blind machen kann, in Erinnerung gerufen werden. Die Franzosen täten gut daran, zu schauen, was auf der anderen Seite des Rheins geschieht. Nicht, um sich zu beruhigen, und noch weniger, um sich darüber zu freuen. Sie würden sehen, dass man auch dort die pedantische Bürokratie verspottet, die die Impfkampagne bremst, und gegen von oben aufgezwungene Entscheidungen, Anweisungen und Gegenanweisungen, die für Verwirrung sorgen, demonstriert. Dieses Virus ist ein politisches Kopfzerbrechen für alle, nicht nur bei uns.“
Alles eine Frage der Perspektive
Ein Versagen Deutschlands vermag Denik N nicht zu erkennen:
„Die deutschen Medien schreiben über chaotisches Krisenmanagement, das Scheitern der politischer Eliten und inkompetente Organisation. Dem tschechischen Leser kommt dies bekannt vor. Nur die Verbindung mit Deutschland ist etwas überraschend. Ja, es ist eine Frage der Perspektive. Aus der Sicht der Tschechischen Republik, die in der vierten Welle Schwierigkeiten hat, sich über Wasser zu halten, und deren tägliche Zunahme an Neuinfektionen um ein Vielfaches höher ist als die der deutschen, ist diese harte Kritik an der deutschen Regierung erstaunlich. In der Realität des tschechischen Pandemie-Elends erscheint das deutsche Krisenmanagement umsichtig und auf jeden Fall fast vorbildlich.“