Suezkanal: Lehren aus der Havarie
Die Ever Given, die seit Dienstag den Suezkanal blockiert hatte, schwimmt teilweise wieder. Das 400 Meter lange Containerschiff wurde von Schleppern und Baggern freigelegt, geholfen hat dabei wohl auch die wegen des Vollmonds ungewöhnlich hohe Flut in der Sonntagnacht. Rund 370 wartende Schiffe können nun darauf hoffen, dass das Warten auf die Durchfahrt der wichtigen Wasserstraße zwischen Europa und Asien bald ein Ende hat.
Handelsrouten besser sichern
Für den Welthandel so strategische Punkte sollten besser abgesichert werden, findet El Periódico de Catalunya:
„Der Vorfall sollte Anlass für ein paar Lehren sein, die sich weltweit ziehen lassen. Sollte man sich allein darauf beschränken, Verantwortlichkeiten zu klären und die Geschädigten gemäß der mit den Versicherungen ausgehandelten Klauseln entschädigen, wäre das eindeutig zu wenig. Es stehen so viele Interessen auf dem Spiel, dass die notwenigen Mittel mobilisiert werden sollten, um möglichst zu verhindern, dass sich Bilder wie die vom Kanal an anderen neuralgischen Stellen der großen Handelsrouten wiederholen.“
In Gigantismus festgefahren
Covid und die Havarie haben etwas gemein, erklärt Corriere della Sera:
„Die Strandung der Ever Given ist das letzte Kapitel einer Geschichte, die vor über einem Jahrhundert mit der ehrgeizigen Idee des Fortschritts begann. ... Dabei bedarf es nicht viel Fantasie, um den 'gestrandeten Riesen' mit der Pandemie zu vergleichen: Sie zwang die Wirtschaft des Planeten in die Knie, legte den Verkehr lahm, brachte den Tourismus zum Erliegen. ... Wir haben gesehen, dass sich die Folgen einer Epidemie nicht auf eine chinesische Provinz oder gar einen einzelnen Kontinent beschränken, so wie der Wüstensand Auswirkungen von der Wall Street bis nach Shanghai, von den Volkswagen-Werken bis zu den Kaufhäusern in London und Tokio hat. Die Ever Given ist die Metapher eines sinnlosen Gigantismus gegenüber den natürlichen und organisatorischen Grenzen.“
Selbstversorgung ist auch nur eine Mär
Dass die globale Verflechtung der Wirtschaft de facto unumkehrbar ist, glaubt die NZZ am Sonntag:
„Ein einziges blockiertes Schiff bringt den globalen Warenhandel aus dem Tritt. Zu sehr haben wir uns daran gewöhnt, per Knopfdruck eine gigantische Auswahl an Gütern kaufen zu können - prompt geliefert und oftmals zu Preisen, die immer günstiger wurden. ... [E]rst die Havarie eines Containerschiffs führt uns jetzt vor Augen, wie verflochten die internationalen Lieferketten effektiv sind. ... Es klingt zwar verlockend, wenn Politiker vermehrt die Selbstversorgung und den Stopp der Globalisierung propagieren. Fakt ist jedoch: Der Handel wird auch in Zukunft weiter wachsen. Zu gross sind die Vorteile für unsere Konsumgesellschaft.“
Die Uhr tickt
Was finanziell nun auf dem Spiel steht, erklärt Adevărul:
„Laut US-Energieministerium werden auf dem Seeweg über zehn Prozent des weltweiten Öl-Transports und rund acht Prozent des Flüssigerdgas-Transports abgewickelt. Wenn der Stau einige Tage dauert, ist das kein Problem und können die Versäumnisse schnell wieder aufgeholt werden. Sollten die Verzögerungen hingegen einige Wochen dauern, würde es für die Transporteure besorgniserregend, denn die Kosten für den Umweg über Afrika würden dramatisch steigen.“
Nichts ist jemals sicher
Nach der Pandemie macht uns nun auch dieses Ereignis klar, dass wir ein ausgeprägteres Risikobewusstsein brauchen, folgert das Wirtschaftsblatt Les Echos:
„Für Unternehmen ist es ein weiterer Grund, in Sachen Risikomanagement von der Hypothese auszugehen, dass nichts (wie der Name des Schiffs 'Ever Given' suggeriert) je sicher und selbstverständlich ist: Gesundheit, die Möglichkeit, hier zu produzieren oder dort durchzufahren, das Angebot eines Lieferanten oder die Finanzierung eines Investors. Und dass, was unvorstellbar ist, eine Verkettung von Ereignissen, nicht unbedingt am unwahrscheinlichsten ist. In Sachen Agilität, Resilienz und Kreativität haben wir noch lange nicht ausgelernt.“
Wind oder menschliches Versagen?
Allein auf Effizienz fixiert scheren wir uns nicht um die Arbeitsbedingungen im Seeverkehr, erklärt Autorin Rose George in The Guardian:
„Auch wenn offiziell erklärt wurde, dass die Ever Given durch Wind seitwärts in ihre Notlage geschoben wurde, habe ich daran meine Zweifel. Ursache für die überwiegende Mehrheit der Seeunfälle ist menschliches Versagen. Kein Wunder. Seeleute arbeiten in immer kleineren Crews auf immer größeren Schiffen und sind schlichtweg ausgelaugt. ... Immer riesigere Schiffe transportieren 90 Prozent der weltweiten Waren. ... Diese Effizienz hat ihren Preis: Nämlich, dass Schiffe auf diesen einen Wasserweg angewiesen sind, um für Waren nach Asien zu kommen und dass Besatzungen monatelang nicht nach Hause können.“
Für die Wasserwelt seit langem ein Desaster
Auf die ökologischen Auswirkungen der intensiven Nutzung der Handelsroute lenkt The Irish Independent den Blick:
„Hunderte Arten von Fischen, Quallen und Krebstieren, die im salzigeren Roten Meer ein hartes Leben führten, sind Richtung Norden gelangt - per Anhalter am Schiff klebend mitgenommen oder von der Strömung mitgerissen. In den gastfreundlicheren Gewässern des Mittelmeers blühen sie auf. Sie haben die einheimischen Arten überrannt, lokale Bestände dezimiert, Meerespflanzen abgegrast, und stellen so auch eine Gefahr für Freizeitaktivitäten und den Tourismus dar. Das Problem ist seit Jahren bekannt, aber die Erweiterung des Kanals entlang eines der verkehrsreichsten Abschnitte im Jahr 2015 scheint die Situation noch verschlechtert zu haben.“