Nord Stream 2: Sind die Würfel noch nicht gefallen?
Joe Biden hat entschieden, dass die USA vorerst keine Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft von Nord Stream 2 verhängen. Begründet wurde dies mit übergeordneten nationalen Interessen, wie den Beziehungen zu Deutschland. Die umstrittene Pipeline soll ab dem Sommer Gas von Russland nach Deutschland transportieren. Doch Beobachter halten es für möglich, dass nun nochmal Bewegung in die Sache kommt.
Grüne Hoffnung
Es kann sein, dass die USA bis zum Herbst abwarten wollen, spekuliert der Politologe Linas Kojala auf Delfi:
„Dann finden im größten EU-Staat [Deutschland] die Parlamentswahlen statt, die einen Erfolg für die Grünen versprechen. Die Führer dieser Partei sagen klar, dass sie alles geben wollen, damit Nord Stream 2 nicht startet - nicht nur aus geopolitischen, sondern auch aus umweltpolitischen Gründen. Da eine neue Regierung ohne die Grünen schwer vorstellbar ist, kann man auf eine politische Wende hoffen. Anderseits kann man dieses Argument auch auf den Kopf stellen. Wenn die USA auf eine wichtige Veränderung in der deutschen Politik setzen, wieso geben sie genau jetzt auf?“
Washington will seinen Marktanteil retten
Das kremlnahe Medium Wsgljad sieht die Kehrtwende der USA kaum politisch bedingt:
„Washington hat fast keine Argumente mehr für einen Stopp des Projektes. Der von Kiewer Falken vorhergesagte russische Überfall auf die Ukraine hat erneut nicht stattgefunden. ... Vor den USA steht deshalb die Aufgabe, weniger das Projekt zu blockieren, als das Gesicht zu wahren. ... Washington ist offenbar zu einer Kompromissvariante zur Teilung des EU-Gasmarkts mit Russland und anderen Lieferanten bereit. Das Maximalziel, Russland mittels einer Blockade des Gastransits durch die loyale Ukraine vom EU-Markt zu verdrängen, wurde nicht erreicht. Jetzt besteht das Minimalziel darin, sich einen wesentlichen Teil dieses wachsenden Marktes zu sichern.“
Jetzt liegt der Ball bei Berlin
Bidens Entscheidung könnte den Weg aus einer Sackgasse bereiten, in die sich die deutsche Politik hineinbugsiert hat, hofft die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Es ist eine Vorleistung, die sich in seinen Ansatz einfügt, das Verhältnis zu den Verbündeten der Vereinigten Staaten wieder ins Lot zu bringen - die braucht er schließlich als Partner in einer Koalition, die sich der Auseinandersetzung mit den autoritären Regimen und insbesondere mit China stellt. Es liegt jetzt also an der Bundesregierung, die jahrelang stur den Interessen der beteiligten Unternehmen gefolgt war und auch deren Argumentation übernommen hatte - vermutlich wider besseres Wissen -, ihren Teil dazu beizutragen, damit ein gesichtswahrender Ausweg gefunden werden kann.“
Die Uhr tickt
Mit der Inbetriebnahme der Pipeline würde sich für die Ukraine alles verändern, analysiert in Ukrajinska Prawda Vadym Glamazdin, Ex-Berater des staatlichen Energiekonzerns Naftohas Ukrajiny:
„In dieser neuen Realität ist das Gas teurer als man sich das heute in der Präsidialadministration vorstellen kann. In dieser neuen Realität ist das Fenster offen für eine direkte Invasion [durch Russland], das nicht mehr das Risiko hat, seine Einnahmen durch den Gasverkauf zu verlieren. Russland wird dann viele zusätzliche Trümpfe für sein geopolitisches Spiel in der Hand haben … Gibt es Hoffnung, dass dies vermieden werden kann? Ja. ... Man kann die Situation noch in den Griff bekommen und eine richtige Lösung finden. Aber die Zeit läuft ab, und zwar sehr schnell.“