EM-Bilanz: Die Teams begeistern - die Politik weniger
Italien gewinnt den Titel des Fußball-Europameisters – nach einem 3:2-Sieg über England nach Elfmeter-Schießen vor 60.000 Fans im Londoner Wembley-Stadion. Was die beiden Teams betrifft, sind Europas Kommentatoren am Tag nach dem Finale voll des Lobes. Wie wenig das Turnier im Kontext der Pandemie hinterfragt wurde, kritisieren sie scharf.
Italiens Glanz ist zurück
Die Azzurri ziehen uns wieder in den Bann, jubelt L'Équipe:
„Im Grunde hat die spielfreudigste Mannschaft gewonnen. Die, hinter die sich vor dem Spiel (fast) der ganze Kontinent gestellt hatte. Die des Nationaltrainers Roberto Mancini, der es geschafft hat, nach dem Fiasko der verpassten Qualifikation für die WM 2018 den verlorenen Glanz wiederherzustellen - mit nunmehr 34 Partien ohne Niederlage. Und die Mannschaft zweier unzerstörbarer Fußball-Opas: Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini, zusammen 70 Jahre alt.“
Die noblere Mannschaft ist England
La Stampa hätte den Engländern den Titelgewinn gegönnt:
„Dieser Sieg wäre auch deshalb wichtig gewesen, weil ihre Mannschaft zwar nicht die beste auf dem Spielfeld ist, aber sicherlich die beste auf ethischer Ebene, dank des Engagements ihrer Spieler gegen Ungleichheit, Rassismus, Missverständnisse und Spaltungen. Sterling, Rashford, Kane sind keine Spieler, die nur an ihr Gehalt denken und daran, wie man den neuen Lamborghini am besten zwischen den beiden Ferraris in der Garage platziert. Die Fans lieben sie nicht nur, weil sie gut spielen, sondern auch wegen ihres Engagements für Dinge, die ihnen wichtig sind. Hätten sie die Europameisterschaft gewonnen, hätten sie den Themen, die sie persönlich unterstützen, noch mehr Sichtbarkeit und Raum geben können. Man hätte ihnen mehr zugehört, sie hätten die Forderungen der englischen multiethnischen Gesellschaft besser vertreten können.“
Gewonnen hat Covid-19
Fröhliche Fußballfeste ohne Masken inmitten der Pandemie - Diário de Notícias kann das kaum fassen:
„Das alles wurde gesponsert durch die unverantwortlichste aller europäischen Organisationen – die Uefa. Wegen ihrer Gier waren weltweit die Bilder von Stadien voller Menschenmassen ohne Masken zu sehen. ... Pandemie und Lockdowns haben unser Erinnerungsvermögen höchst selektiv werden lassen und den Kampf gegen die Dreistigkeit betäubt. ... Der Luxus, dass wir in Europa leben, lässt uns die Tatsache ignorieren, dass nur 0,4 Prozent der Impfstoffe an arme Länder verteilt wurden und nur 25 Prozent der Weltbevölkerung geschützt sind. ... Die WHO hat es bereits gesagt: Wir sind Komplizen einer 'moralischen Katastrophe'. Und das wird nicht unbestraft bleiben: Das Virus wird nicht auszulöschen sein.“
Für Johnsons riskanten Kurs missbraucht
Speziell über die laxen Regeln bei den letzten drei EM-Spielen ärgert sich Corriere del Ticino und sieht das volle Wembley-Stadion als:
„ein weiteres Symbol, das mit einer gewissen Oberflächlichkeit vom britischen Premier Boris Johnson zur Schau gestellt wurde. Er hat daraus - unabhängig vom unerwünschten sportlichen Ausgang - auch ein geopolitisches Instrument gemacht. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Kapazität schließlich auf 75 Prozent anstieg - verrückt, wenn man das unter gesundheitlichen Gesichtspunkten analysiert. Vielleicht war die Uefa in der Schuld, weil der britische Premier sie im Kampf gegen die Super League unterstützt. Sie konnte den Schritt von 'Bojo' nur absegnen, die kommerzielle Maximierung einer umstrittenen Formel, an die sie sich 'anpassen' musste, wie Präsident Aleksander Čeferin zugab.“