Impfzwang: Im Gesundheitssektor eine gute Idee?
Nach Italien haben auch Frankreich, Griechenland und Lettland eine Corona-Impfpflicht im Gesundheits- und Pflegesektor eingeführt. Der französische Präsident Emmanuel Macron gibt den Beschäftigten Zeit bis Mitte September, dann soll es Kontrollen geben.
Geben und Nehmen
Le Temps findet einen Impfzwang für Frankreich durchaus kohärent:
„Seit Beginn der Pandemie, und trotz des anfänglichen Chaos bei Masken und Beatmungsgeräten, hat der französische Staat nach dem Motto 'whatever it takes' gehandelt. Es wurde kein Unterschied zwischen Konzernen gemacht, die öffentliche Hand half allen, ohne Grenzen. ... Im Lichte dieser Politik müssen wir den Schritt des Staatspräsidenten in Richtung Impfpflicht sehen. ... Ohne es explizit so zu sagen, definierte das Staatsoberhaupt kurz vor dem Nationalfeiertag ein 'Geben und Nehmen': Da die Behörden ihre Pflicht getan haben, müssen die Bürger nun dasselbe tun, um die Gemeinschaft nicht zu gefährden.“
Macron wird zum Magier
Marianne mokiert sich über Macrons Fernsehansprache am Montag:
„Es genügt offenbar, dass Präsident Macron im Fernsehen auftritt, mit dem Eiffelturm im Hintergrund, und seinen neuen Plan zur Bekämpfung von Covid-19 ankündigt, um die Wissenschaft über Nacht auf den Kopf zu stellen. Der Beweis: Bisher musste man nach der zweiten Dosis vierzehn Tage warten, bis der Impfstoff wirksam war. Von nun an wird es nur noch eine Woche dauern. ... Der Gesundheitsminister behauptet, sich mit Blick auf dieses Wunder bei Alain Fisher rückversichert zu haben, dem 'Monsieur Vaccin' der Regierung. ... Allerdings bleibt eine Anomalie: Im Rest der Europäischen Union ändert sich nichts.“
Leben retten statt infizieren!
Le Figaro unterstützt Macron:
„Unsere Freiheit findet ihre Grenze in der Freiheit der anderen. Selbst wenn wir bereit wären, aus vertretbaren persönlichen Gründen unser Leben aufs Spiel zu setzen, würde das Recht dazu relativiert, wenn die Gesundheit oder sogar das Leben anderer gefährdet wird. ... Wer als Pfleger arbeiten will, hat die ethische Pflicht, das Leben anderer zu retten oder dazu beizutragen. ... Er hat daher eine präventive Pflicht, sich impfen zu lassen - und die Freiheit, einen anderen Beruf auszuüben, wenn er dies nicht möchte. Dies gilt umso mehr in einem staatlichen Krankenhaussystem, das dem Einzelnen kaum die Wahl lässt, ob er sich dort behandeln lassen will. Wie Unternehmen von jedem Vertriebsmitarbeiter einen Führerschein verlangen, erscheint es nicht ungewöhnlich, von Pflegekräften eine Impfung zu fordern, damit das Krankenhaus rettet, statt zu infizieren.“
Völlig kontraproduktiv
Real-News-Kolumnist Nikos Mpogiopoulos hält nichts von einem Impfzwang:
„Die notwendige Massenimpfung wird weder durch Erpressung oder moralischen, psychologischen und wirtschaftlichen Druck, noch durch sogenannte 'Privilegien' und 'Gegenleistungen' sichergestellt. Sich impfen zu lassen kann nicht bedeuten, sich einem reaktionären Diktat zu unterwerfen. Es ist ein Recht, das man wahrnimmt, wenn man umfassend informiert und überzeugt wird, wenn die Wahrheit gesagt wird und Transparenz herrscht. So kann man die Eigenverantwortung der Menschen festigen. Alles andere verstärkt lediglich irrationales Denken, untergräbt den Schutz der öffentlichen Gesundheit und fördert die Logik der Spaltung.“
Der Schlüssel zur Freiheit
Le Soir summiert die Debatte wie folgt:
„Die 'Impf-Befürworter' argumentieren, dass es wahnwitzig wäre, wenn das Pflegepersonal durch seine Verweigerungshaltung das Leben von Patienten gefährdet. Die 'Impfgegner' erwidern, ein Impfzwang spreche den Menschen ihre individuelle Freiheit ab und missachte das Risiko von unerwünschten Nebeneffekten und Langzeitfolgen. Eine altbekannte Debatte. … Neu ist jedoch die Tatsache, dass ein Impfstoff heute definitiv der Schlüssel zur Freiheit ist. Natürlich kann man kritisieren, dass es paradox ist, wenn eine Pflicht plötzlich zur Befreiung werden soll. Doch tatsächlich ist das nichts Außergewöhnliches. In einer Gesellschaft zu leben ist per Definition eine Frage von Rechten und Pflichten, von Freiheiten und Einschränkungen, ein Gleichgewicht auf der Grundlage demokratischer Regeln. Freiheit als naturgegebener Zustand – das ist Augenwischerei.“
Kündigungen wären fatal
Die Frankfurter Rundschau hält eine Impfpflicht angesichts der angespannten Lage in der Branche für kaum durchsetzbar:
„Rechtlich gesehen ließe sich eine Impfpflicht für das Pflegepersonal durchaus festlegen, um die Gefährdung von Patienten und Pflegebedürftigen zu verhindern. Derartige Regeln existieren bereits bei anderen Infektionskrankheiten, etwa bei Masern. Doch das Personal ist mehr als knapp. Keine Klinik und keine Pflegeeinrichtung kann es sich leisten, Kündigungen in Kauf zu nehmen, ungeimpfte Pflegerinnen und Pfleger zur Gartenarbeit einzusetzen oder sie vor die Tür zu setzen.“