Wahlen in Russland: Degradiert zum notwendigen Übel?
Vom 17. bis zum 19. September wählt Russland seine Duma-Vertreter. Chancenreiche Oppositionelle sind dabei ausgeschlossen und die OSZE verzichtet wegen strenger Auflagen Moskaus auf die Entsendung von Wahlbeobachtern. Kommentatoren erklären, warum sich an der Macht von Putin und seiner Partei "Einiges Russland" nichts ändern wird - auch wenn es auf dem Papier durchaus Alternativen gibt.
Putins Traum von Wahlfreiheit
Für die Salzburger Nachrichten offenbart sich einmal mehr Putins eiserner Willen zum Machterhalt:
„Putins absolutistisches Credo lautet: Der Staat bin ich. Wer das nicht wahrhaben will, erinnere sich an 2008. Damals hätte sich Putin nach zwei Amtszeiten als Präsident aus der aktiven Politik verabschieden können, wie es die Verfassung vorsah. Er wäre nach dem Chaos der 90er Jahre als großer Stabilisator in die russische Geschichte eingegangen. Stattdessen machte er weiter. Wahlen stören dabei nur. Deswegen wird man sich an die Putin-Ära später als eine Zeit der politischen Morde, der Schauprozesse und der niedergeknüppelten Demonstrationen erinnern. … Für Putin wäre ein Leben ohne Wahlen vermutlich ein Traum. Aber das ist in Russland (noch) keine Option. Also wird manipuliert, bis es passt.“
Kommunisten als zwiespältige Alternative
Das Projekt "Smart Voting", das von Nawalnys Stiftung entwickelt wurde, empfiehlt den Wählern die jeweils aussichtsreichsten Gegner der Kreml-Partei Einiges Russland. Und das sind zu 60 Prozent Kandidaten der KPRF. Grund genug für Nowaja Gazeta, die Paradoxien der kommunistischen Partei genauer anzuschauen:
„Einerseits tut ihr Zentralapparat mit dem ewigen Anführer Sjuganow alles, was Wähler aus dem liberalen Spektrum abschrecken sollte. Sie sind für Dserschinski-Denkmäler und legen Blumen auf die Gräber von NKWD-Henkern. Sie sind mit Lukaschenkas Vorgehen einverstanden, preisen Stalin, flirten mit Impfgegnern und lehnen Nawalny kategorisch ab. Anderseits wirken auf der unteren Ebene, in den Regionen und in Moskau, die Kandidaten der KPRF kaum weniger liberal als die Jabloko-Leute: Sie fordern die Freilassung von politischen Gefangenen, Redefreiheit, die Lösung von Umweltproblemen und die Förderung der Jugend.“
Der Kreml hält sich eine Pseudo-Opposition
Echte politische Konkurrenz gibt es für Russlands Machthaber auch bei dieser Wahl erneut nicht, klagt The Irish Times:
„ Die Kommunisten streben eine Rückkehr zum brutalen politischen Regime der Sowjetunion an. Die Liberaldemokratische Partei lehnt sowohl den Kommunismus als auch den Neoliberalismus ab und bietet den Wählern eine alternative Mischung aus russisch-ethnischem Chauvinismus und Ultranationalismus. Beide behaupten, eine politische Alternative darzustellen, und doch werden diese Parteien tatsächlich vom Staat finanziert. ... Auf absehbare Zeit scheint Russland dazu bestimmt zu sein, bestenfalls vom Namen her eine Demokratie zu bleiben.“
Sowjetnostalgie bringt Kommunisten kaum Stimmen
Die staatliche Agentur Ria Nowosti skizziert, was die Russen eigentlich von ihrer Politik erwarten:
„Das Hauptproblem ist die enorme soziale Ungerechtigkeit. Die Bürger wollen nicht nur einen hohen Lebensstandard, sondern auch dessen gerechte Verteilung. Aber dies ohne revolutionäre Erschütterungen und Verlust des Großmachtstatus, sondern bei verlässlich funktionierenden staatlichen Mechanismen und einer sich entwickelnden Wirtschaft ohne Gleichmacherei und Warenmangel. Deshalb nennt man in Umfragen die Sowjetvergangenheit [als bestes System], votiert aber im realen Leben nicht für die Kommunisten. ... Die Menschen vertrauen Putin, von dem man erwartet, dass er sowohl den Großmachtstatus als auch einen hohen Lebensstandard sichert.“
So sicher sitzt Putin nicht im Sattel
Auf Putin warten ungemütliche Zeiten, erklärt Corriere della Sera:
„Die Senkung des Lebensstandards schafft eine Unsicherheit, die seine Wiederwahl auf den höchsten Thron gefährden könnte. ... Ganz zu schweigen davon, dass Putin noch andere Tests erwarten: Sind die Folgen des westlichen Desasters in Afghanistan ein strategischer Erfolg oder eine Gefahr der islamistischen Ansteckung? Könnte die immer engere Union mit Belarus zu einem Bumerang werden? Wie sollen die Beziehungen zu einem gespaltenen Westen aufgebaut werden, der durch Bidens Feindseligkeit gegenüber China und die der Osteuropäer gegenüber Russland gelähmt ist? Nach Kabul gehört Putin immer noch zu den Siegern. Aber zu viele fehlgeschlagene Tests und das Ergebnis der Wahlen könnten diese Wahrnehmung umkehren.“
Die Impf-Peitsche wartet schon
Kommentator Anton Orech von Echo Moskwy ahnt, was statt Politik gleich nach den Wahlen zum beherrschenden Thema werden wird:
„'Einiges Russland' hat eine Großkundgebung vor dem Kreml abgesagt, obwohl die Staatsmacht bislang - ungeachtet aller Viren - in aller Ruhe Stadien füllte. Die Situation scheint mir ernster, als die Statistik es vorlügt. Warten wir noch eine Woche ab: Dann sind die Wahlen vorbei und man muss dem Volk nichts mehr vorspielen. Dann sind radikale Maßnahmen, die Ihnen gar nicht gefallen werden, möglich. Wenn in den USA faktisch eine Impfpflicht kommt, warum nicht auch in Russland? “
Nach der Peitsche jetzt auch etwas Zuckerbrot
Aus Angst vor einer Blamage setzt der Kreml auf eine Doppelstrategie, analysiert der oppositionelle Wirtschaftswissenschaftler Andrej Netschajew in Echo Moskwy:
„Das Geldversprechen kommt daher, dass objektiv gemessen 'Einiges Russland' irgendwo auf Sockelleisten-Niveau rangiert. Deshalb springt die Staatsmacht im Quadrat. Einerseits walzt sie die Opposition nieder und erklärt die verbliebenen unabhängigen Medien und Journalisten zu 'ausländischen Agenten' und behindert ihre Arbeit. Aber dennoch bleibt sie nervös. Deshalb ersinnt sie immer neue Schritte, um irgendwie - nicht nur dank Wahlfälschungen - ihrer Hauspartei den Sieg zu gewährleisten. ... Die Regierung nimmt die Rentner mit der einen Hand aus, aber dann kommt der Präsident mit einer 'großzügigen Geste' auf sie zu.“
Scheinopposition bewahrt Status quo
Aus Angst und Bequemlichkeit haben die zugelassenen Oppositionsparteien ihre Aufgabe nicht wahrgenommen, analysiert Nesawissimaja Gaseta:
„Das Problem - oder gar das Fiasko - der Systemopposition mit Zugang zum Fernsehen ist, dass sie im ganzen Zyklus zwischen den Wahlen keine allgemein bekannten Alternativen zu Schlüsselfragen vorgelegt hat. Entsprechend hat sie auch keine Redner mit Autorität, denen jemand zuhören möchte. ... Die Wahlen laufen auf eine Bewahrung des Status quo hinaus. ... Für die Duma-Opposition geht es vor allem darum, ihre Stellung zu halten. Jeder Versuch, diesen Rahmen zu sprengen und der Staatsmacht zusätzliche Mandate abzujagen oder abzuhandeln, ist ein Risiko, auf das sich kaum jemand einlassen möchte.“
Selbst Putin braucht formale Legitimation
Warum der Systemkritiker Alexei Nawalny für Putin trotz seiner Inhaftierung eine so große Gefahr darstellt, macht Dagens Nyheter klar:
„Man kann sich fragen, warum Putin so viel Angst vor Nawalny hat und warum autoritäre Systeme überhaupt vorgeben, Wahlen abzuhalten. Eine aktuelle Bedrohung der Macht ist nicht erkennbar. Aber alle Tyrannen wollen irgendeine Art von formaler Legitimität. Zudem wächst die Unzufriedenheit mit der Gegenwart und dem sinkenden Lebensstandard. Und die vorherrschende Korruption schürt Verzweiflung bei den Bürgern. 'Früher oder später wird Russland einen demokratischen und europäischen Weg einschlagen. Einfach, weil die Leute das wollen', sagt Nawalny. Und genau das befürchtet Putin.“