Nordirland-Protokoll: London auf Konfrontationskurs
Brüssel hat London angeboten, die seit dem Brexit bestehenden Zollkontrollen an der Grenze in der Irischen See zu erleichtern: Unter anderem soll bei ausdrücklich für Nordirland bestimmten Waren auf Kontrollen verzichtet werden. Zuvor hatte Großbritanniens Brexit-Minister David Frost eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls gefordert und mit dessen Aussetzung gedroht. Kommentatoren raten Brüssel zu klarer Kante.
Brüssel hilft Johnson aus der Patsche
Der britische Premier sollte das großzügige Angebot der EU annehmen, appelliert The Guardian:
„Wenn es Ziel ist, den Brexit in Nordirland zum Funktionieren zu bringen, sind die Vorschläge des EU-Beauftragten Maroš Šefčovič die Grundlage für eine Einigung. Wenn man stattdessen darauf besteht, das Protokoll vollständig abzuschaffen, wird Nordirland zu einer Geisel in einem rücksichtslosen politischen Spiel mit dem Feuer, das schnell eskalieren und zu einem teuren und unnötigen Handelskrieg führen könnte. Das ist die Wahl, vor der Boris Johnson steht. Ihm wird eine diplomatische Lösung für ein Problem angeboten, das er selbst geschaffen hat. Es kostet ihn wenig, diese anzunehmen. Es kostet Großbritannien viel, wenn er sich weigert.“
Den Verantwortungslosen nicht nachgeben
Mehr als diesen Schritt können die Briten von der EU nicht erwarten, stellt Der Tagesspiegel klar und skizziert ein mögliches Szenario:
„Die EU muss darauf vorbereitet sein, dass Großbritannien das Nordirlandprotokoll einseitig aufkündigt. Das heißt, dass die Union dann im Gegenzug etwa Strafzölle auf britische Waren und Dienstleistungen verhängen muss. London scheint überzeugt, dass Brüssel einknickt und diesen folgenreichen Schritt nicht wagen wird ..., weil sie den labilen Frieden in Nordirland durch einen drohenden Handelskrieg nicht in Gefahr bringen wollen. Doch ... Brüssel muss den verantwortungslosen Taktierern auf der Insel zeigen, dass sie sich dieses Mal mächtig verkalkuliert haben.“
Verlogenheit mit Tugend trotzen
Der britische Premierminister zündelt mit voller Absicht, warnt Le Monde:
„In den [jüngsten] Äußerungen seines früheren Beraters Dominic Cummings, denen zufolge Johnson das Brexit-Abkommen, das er nur angenommen hatte, um 2019 die Wahl zu gewinnen, von Anfang an mit den Füßen treten wollte, steckt offenbar ein Stückchen Wahrheit: Die Aufrichtigkeit des britischen Premiers ist fragwürdig. Die Europäische Union muss sich dieser bedauerlichen Tatsache bewusst sein und hart bleiben. Nur so kann sie den Frieden in Irland und den EU-Binnenmarkt erhalten. Die 27 müssen gegenüber den britischen Forderungen die gleichen Tugenden an den Tag legen, die sie während der endlosen Brexit-Verhandlungen bewiesen haben: einen unerschütterlichen Zusammenhalt und Kompromissfähigkeit.“
Kein Verlass auf London
Auch L'Echo ist angesichts des bisherigen Verhaltens der Regierung Johnson gegenüber Brüssel skeptisch:
„Der britische 'Partner' ist nicht vertrauenswürdig. Die Regierung Johnson hat dies bereits letztes Jahr mit ihrem Binnenmarktgesetz gezeigt, als sie drohte, den Austrittsvertrag nicht einzuhalten, den sie unterzeichnet und ratifiziert hatte. Seitdem entwickelt London die zerstörerische Rhetorik gegenüber der EU weiter. Die Regierung Johnson fordert die Neuauflage eines Protokolls, das sie selbst vor wenigen Monaten ausgehandelt, unterzeichnet und ratifiziert hat. … Wie kann sich die EU, wenn sie demnächst dieses neue Abkommen mit London unterschreibt, sicher sein, dass diesmal alles abgesichert ist?“
Neuer Mechanismus zur Streitbeilegung muss her
Beim Ringen darum, ob der EuGH die Kontrollinstanz zur Einhaltung des Nordirland-Protokolls bleiben soll, fordert The Irish Independent einen Kompromiss:
„Dem Lager der britischen Brexit-Befürworter ist insbesondere der Europäische Gerichtshof ein Dorn im Auge. Hier ist es für David Frost besonders verlockend, sich in Szene zu setzen. Die Spekulationen darüber, wie sehr die Londoner Regierung weiter Druck machen wird, gehen weit auseinander. Doch es muss dem Team von Boris Johnson wohl klar sein, dass es einen Punkt geben könnte, an dem Brüssel sagt: Genug ist genug. ... Eine Möglichkeit wäre die Einrichtung neuer Streitbeilegungsmechanismen, bei dem der Europäische Gerichtshof als Letztinstanz bestehen bleibt.“