Rekordstrafe für Polen: Was bewirkt das EuGH-Urteil?
Im Justizstreit zwischen Polen und der EU hat der EuGH eine Rekordstrafe gegen Warschau verhängt. Eine Million Euro pro Tag soll das Land zahlen, solange die umstrittene Disziplinarkammer nicht abgeschafft wird, die nach Ansicht der Richter gegen die Gewaltenteilung verstößt. Kommentatoren beleuchten die Hintergründe des Kompetenzgerangels und sehen die EU am längeren Hebel.
Vor den Nationalisten darf man nicht weichen
Die EU soll gegenüber Polen und Ungarn endlich hart auftreten, fordert Népszava:
„Die europäischen Steuerzahler haben inzwischen die Nase voll davon, dass die von ihnen bezahlten Steuergelder am östlichen Rand des alten Kontinents teils unterschlagen und teils für die Subventionierung autokratischer Regime verwendet werden. ... Die Exekutive der EU sollte den eingeschlagenen Weg fortsetzen, sie muss Entschlossenheit zeigen, um die polnischen und ungarischen Nationalisten zum Rückzieher zu zwingen. Die EU-Kommissare dürfen nicht auf Angela Merkel hören, die nichts aus dem Misserfolg ihrer Versöhnungspolitik gelernt hat und immer noch einen Kompromiss fordert.“
Dickköpfigkeit könnte für Warschau teuer werden
Wie lange sich Polen noch weigern kann, die Strafe zu zahlen, fragt sich Lidové noviny:
„Der EU wird das Geld nicht fehlen. Sie wird die Beihilfen für Polen aus dem Haushalt kürzen. Es geht um 36 Milliarden Euro. Die Gelder für Warschau liegen auf Eis, bis die Zweifel über den Rechtsstaat ausgeräumt sind. Aber selbst wenn die Kommission die Gelder freigeben sollte, würden das wahrscheinlich die EU-Finanzminister blockieren. Die geben ihre formale Zustimmung nicht einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit. Regierungen der Benelux-Staaten und aus Skandinavien haben bereits durchblicken lassen, dass sie dagegen stimmen würden.“
Grundlage des Verfahrens ist wackelig
Für Die Welt stellt sich die Frage, ob der EuGH überhaupt das Recht hat, Warschau zu Veränderungen seines Justizwesens zu zwingen:
„Seine Autorität leitet sich aus Artikel 19 des Lissabon-Vertrags ab. Dort heißt es: 'Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.' Und das war’s. Was das bedeutet, bleibt unklar. ... Es geht um die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Sie wird von der Regierung Polens verletzt. Aber die rechtsstaatliche Grundlage des Strafverfahrens gegen Polen ist eben auch ziemlich wackelig. Die Regierungen haben es - vielleicht mit Absicht - versäumt, die Kompetenzen des EuGH klar zu definieren. Damit haben sie die jetzige Verfassungskrise der EU selbst heraufbeschworen.“
Warschau muss jetzt kleinlaut vom Baum klettern
Für Polen geht es nun wirklich ans Eingemachte, stellt der Deutschlandfunk fest:
„[D]ie polnische Regierung kann sich hier nicht aussuchen, ob sie zahlt oder nicht. Weigert sie sich, werden diese Summen von den Zahlungen einbehalten, die Polen - als größtem Nettoempfänger - aus dem EU-Haushalt zustehen. ... Diese Millionen Strafzahlungen sind ... noch gar nichts gegen das, was die polnische Regierung eigentlich zu befürchten hat: 36 Milliarden aus dem Corona-Aufbauplan stehen in Frage. Wenn die polnische Regierung also nicht gänzlich von einer vermeintlich heldenhaften Untergangssehnsucht getrieben ist, dann wird sie still und leise nach einem Weg suchen, von jenem Baum herunterzusteigen, auf den sie unter martialischen Tönen und verbaler Eskalation öffentlich geklettert ist.“
Polen im Herzen der EU halten
Bei der notwendigen Maßregelung Polens muss die EU gleichzeitig viel Fingerspitzengefühl beweisen, warnt Kristeligt Dagblad:
„Es gilt, einen kühlen Kopf zu bewahren, damit sich der Streit um den polnischen Rechtsstaat nicht zur größten Krise der EU seit dem Brexit entwickelt - oder gar zu einem Polexit. Anders als die Briten gehören die Polen zum Zentrum Europas. Bei der Osterweiterung ging es darum, Europa endlich zu vereinen. Die Europäische Union muss zu ihren demokratischen Grundwerten stehen, aber es ist auch wichtig, die Polen davon zu überzeugen, dass wir sie mitten in Europa brauchen.“
Kompetenzen ohne Eskalation klären
Polityka geht auf die Diskussion um die Zuständigkeit europäischer Richter für das polnische Justizwesen ein:
„Betrachtet man die Verträge selbst, so ist die Europäische Union keine Föderation, wie die USA oder Deutschland. Die Mitgliedstaaten behalten in einigen Bereichen, wie der Außenpolitik, ihre volle Unabhängigkeit, in anderen, wie den Handelsfragen, jedoch nicht. Hier gibt es noch viele Grauzonen, die unter anderem der EuGH seit Jahren durch seine Auslegung der Verträge zu klären versucht. ... In der EU besteht ein Spannungsverhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht. Doch Polen steht in diesem Streit auf der falschen Seite.“
Das Handeln der PiS ist unglaubwürdig
Zuerst den Rechtsstaat zerstören und dann darauf pochen - das geht nicht zusammen, findet Die Presse:
„Was ist mit der Behauptung der Polen, es würde ihnen ... bloß um den Schutz des Rechts aller Mitgliedstaaten vor dem Übergriff der Eurokraten gehen? Mit dieser Behauptung mag Warschau zwar zustimmendes Kopfnicken der Rechtskonservativen ernten, doch das ändert nichts daran, dass sie ein Holler [töricht] ist. ... Solange Brüssel schwieg und die Euros gen Osten rollten, scherte sich PiS den sprichwörtlichen Kehricht um die Frage, wo nationales Recht endet und Europarecht beginnt. Nun, da der EuGH die Justizreform verurteilt hat und Strafzahlungen anstehen, halten die Nationalpopulisten jene Verfassung hoch, die sie zuvor überrollt hatten, und mimen die missverstandenen Freiheitskämpfer.“