Corona: Wie lässt sich die Winterwelle stoppen?
Ob Impfpflicht, Coronapass oder Lockdown - fast alle europäischen Länder verschärfen derzeit die Corona-Maßnahmen, um sich gegen eine neue Infektionswelle im Winter zu wehren. Und fast überall gibt es einen mehr oder weniger großen Bevölkerungsteil, dem diese Maßnahmen zu weit gehen. Auch in Europas Presse hadern einige mit den Verschärfungen, während andere den Protest nicht nachvollziehen können.
Sozialstaat verlangt zu Recht auch Opfer
Eine Impfpflicht ist vernünftig und zumutbar, argumentiert der Immunologe Eric Muraille in Le Vif / L'Express:
„Wir können aus edlen Beweggründen die individuelle Freiheit an erste Stelle setzen und alle einschränkenden und diskriminierenden Maßnahmen ablehnen. Dann müssen wir jedoch akzeptieren, dass wir uns in Richtung eines liberalen Systems nach US-Vorbild bewegen, in dem der Einzelne allein die Verantwortung für sein Leben und seine Entscheidungen trägt. Die Ungleichheit und Unsicherheit, die dieses System mit sich bringt, sind bekannt. ... Die Alternative besteht darin, einen Sozialstaat zu verteidigen, der Kosten und Risiken auf sich nimmt, aber im Gegenzug gewisse Opfer verlangt, die rational und wissenschaftlich gerechtfertigt sind. So knüpfen wir an die Ideale der Aufklärung an, wonach eine Regierung vernunftbasiert und im Interesse der überwiegenden Mehrheit handeln muss.“
Wien hätte den Zwang vermeiden können
Mit einem historischen Vergleich macht Der Standard klar, wie halbherzig die Impfkampagne in Österreich war:
„Ältere erinnern sich, wie 1992 bis 1994 von der rot-schwarzen Bundesregierung die Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zur EU vorbereitet wurde: Spitzenpolitiker wie Außenminister Alois Mock und Bundeskanzler Franz Vranitzky traten unermüdlich bei allen möglichen Veranstaltungen auf; die Sozialpartner waren eingebunden; erstklassige Agenturen … entwarfen eingängige Kampagnen. [Die aktuelle Regierung] hat niemals eine konzertierte, intelligente Kampagne fürs Impfen auf die Beine gestellt und ab Frühjahr dieses Jahres überhaupt alles schleifenlassen. Die neue Regierung rudert unkoordiniert und hilflos herum, muss auf Zwangsmaßnahmen wie einen Lockdown und eine Impfpflicht zurückgreifen.“
Schüler sollten das nicht ausbaden
Als Lehrerin ärgert sich Tiia Penjam in Eesti Ekspress darüber, dass in Tallinn die Schulen seit den Herbstferien wieder auf Distanzunterricht umgestellt haben:
„Tallinner Schüler - auch geimpfte - 'retten' den Betrieb der Nachtklubs und Pflegeheime in Süd-Ost-Estland. Beim Anblick der Lage der Kinder möchte man weinen. ... Alle zivilisierten Länder versuchen in der dritten Pandemie-Welle vor allem Schulen offen zu halten. Aber Tallinn weiß es wohl besser. Dass manches Kind sich freut, nicht in die Schule gehen zu müssen, ändert nichts an der Tatsache, dass dieses Glücksgefühl nichts mit dem Bildungs- oder sozialen Fortschritt des Kindes zu tun hat.“
Auch Liberale müssen für eine Impfpflicht sein
Die Regierung in Tschechien erwägt, ab dem 1. Februar eine Impfpflicht für Menschen über 60 und für relevante Berufsgruppen einzuführen. Petr Honzejk, Kommentator von Hospodářské noviný, begrüßt das:
„Wenn der Staat den Menschen eine neue Pflicht auferlegt, ist das immer umstritten. Da ist rasch von Freiheitsbeschränkungen, staatlichem Dirigismus oder gar Totalitarismus die Rede. Es ist gut, dass Liberale routinemäßig Alarm schlagen. ... Aber im konkreten Fall geht es nicht um solche Bedrohungen. Die Wirklichkeit ist eine ganz andere. Deshalb sollte auch ein Liberaler, dem die Freiheit wichtig ist, die Impfpflicht unterstützen.“
Nun schlägt die Stunde der Experten
Wien sollte die Impfkampagne endlich anderen überlassen, rät Johannes Huber in seinem Blog dieSubstanz.at:
„Mit der Impfpflicht ab 1. Februar wird ... zwar die Durchimpfungsrate deutlich steigen, für Regierung und Politik wird der Schaden jedoch groß bleiben. Gerade weil mit weiteren Wellen zu rechnen ist, müsste sie wenigstens über so viel Vertrauen verfügen, dass ihre Ankündigungen und Maßnahmen befolgt werden und wirkungsvoll sein könnten. Das tut sie jedoch nicht. ... [I]m Sinne [der Regierung] wäre es, unter Beibehaltung der politischen Verantwortung die Pandemiebekämpfung im Allgemeinen und die Impfkampagne im Besonderen endlich abzugeben; insofern, als sie diese sichtbar von Expertinnen und Experten mit ungleich besseren Vertrauenswerten durchführen lassen.“
Präsidentin sorgt für Akzeptanz
Nach dem Besuch einer Covid-Klinik in Bratislava hat die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová einen schnellstmöglichen neuen Lockdown gefordert, was Denník N lobt:
„Čaputová hat in ihrem emotionalen Auftritt energisch nach einem Lockdown sowohl für Geimpfte als auch für Ungeimpfte verlangt, auch wenn dies gegenüber ersteren unfair wäre. ... Noch wichtiger ist, dass sie den in 'alternativen' Medien verbreiteten dummen Unsinn über Covid und Impfungen klar zurückwies. Die nach wie vor beliebteste Politikerin des Landes könnte so die Akzeptanz für die neuen Einschränkungen erhöhen. ... Die Präsidentin hat das Richtige getan, auch wenn sie jetzt von einem Teil der Gesellschaft und der Politik Flüche und Widerspruch ernten wird.“
Kampf gegen Covid ist ein Mehrfrontenkrieg
Gegen die Impfskepsis gibt es keinen goldenen Weg, stellt Dagens Nyheter fest:
„Die Bemühungen um eine Erhöhung der Impfrate müssen fortgesetzt werden. Die Ergebnisse sprechen für sich: Je höher die Abdeckung, desto weniger Tote und Schwerkranke und desto näher der Weg zurück in eine völlig offene Gesellschaft. Frankreich hat Druck auf die Ungeimpften ausgeübt. Österreich versucht es mit einer zweifelhaften Pflicht, andere haben Belohnungen eingesetzt. In Rumänien und Bulgarien, den impfskeptischsten Ländern der EU, ist der Weg lang und steil. Eine einzelne Lösung reicht nicht aus. Der Kampf gegen Covid-19 ist ein Mehrfrontenkrieg.“
Chronisch Kranke bleiben auf der Strecke
Dass das überlastete ungarische Gesundheitssystem auch seine Pflichten gegenüber Nicht-Coronapatienten vernachlässigt, betont der Arzt Zoltán Nagy in Népszava:
„Im EU-Vergleich müssen die Ungarn am zweitlängsten auf Operationen warten, ihre Zahl wird mit rund 50.000 beziffert. In Italien, Dänemark, Schweden, Deutschland und Großbritannien etwa sind die Wartezeiten allenfalls halb so lang. ... Es ist mir freilich bewusst, dass gegenwärtig Hunderte Menschen täglich an Corona sterben. Indessen möchte ich auf diejenigen hinweisen, die mangels ärztlicher Behandlung chronisch krank geblieben sind. Wir können nicht so tun, als würden sie nicht existieren, gehören doch auch sie zu den Opfern der vierten Welle und der wer weiß noch wie vielen nachfolgenden.“