Biden und Putin haben geredet: Und nun?
In der Ukraine-Frage sind die Positionen nach dem Videogipfel zwischen Biden und Putin nahezu unverändert: Die Präsenz russischer Truppen in Grenznähe interpretiert Washington als Aggression und droht mit Sanktionen, weiterer Aufrüstung der Ukraine und verstärkter Truppen-Präsenz in östlichen Nato-Staaten. Putin sieht in dieser Politik eine Bedrohung. Was der Gipfel dennoch bewirkt hat, beschäftigt die Presse.
Psychotherapeut Dr. Biden
Der US-Präsident kann Putin im Zaum halten, glaubt der Politologe Igor Eidman in einem von gordonua.com veröffentlichten Facebook-Post:
„Biden behandelt Putin wie einen gefährlichen Verrückten. Und er selbst fungiert als Psychotherapeut, von dessen Sitzungen der Patient psychologisch abhängig ist. Dr. Biden weiß, wie er die Aggressionen des Patienten abbauen kann, indem er ihm demonstrativ Aufmerksamkeit schenkt, ohne zu vergessen, daran zu erinnern, dass die Pfleger an der Tür stehen. Nach einem Treffen mit seinem Arzt beruhigt sich so ein gewalttätiger Verrückter für eine Weile. Der Therapeut vereinbart jedes Mal vor der Verabschiedung ein ungefähres Datum für einen neuen Termin, damit der Patient nicht über die Stränge schlägt, wenn er nicht behandelt wird. Der Patient versteht und reißt sich irgendwie zusammen.“
Russland wieder nach Westen ausrichten
Die Verbindung Moskau-Peking soll aus Bidens Sicht nicht zu eng werden, analysiert La Stampa:
„Im Jahr 2014 trieben die USA Russland in die Arme Chinas, indem sie den Sturz des ukrainischen Regimes unterstützten. ... Man muss nicht Clausewitz gelesen haben, um festzustellen, dass es nicht lehrbuchmäßig ist, seinen Hauptgegner (Peking) zu stärken, indem man ihm die beträchtlichen militärischen, energetischen und technologischen Ressourcen des Nebengegners (Moskau) anbietet. Der virtuelle Gipfel zwischen Putin und Biden lässt nun die Vermutung zu, dass man sich in Washington zu fragen beginnt, ob es ein gutes Geschäft war, Kyjiw Moskau zu entreißen und damit Moskau an Peking zu übergeben.“
Putin hat den Kürzeren gezogen
Der Publizist Leonid Gosman sieht auf Echo Moskwy einen Punktsieg für Biden:
„Das Weiße Haus hat gleich nach Gesprächsende erklärt, dass Biden faktisch ein Ultimatum gestellt habe. Nach den von Putins aufgestellten 'Gesetzen der Straße' aus seiner Petersburger Jugend hätte die Antwort umgehend und in aller Härte erfolgen müssen. Aber der Kreml schwieg einige Stunden und verkündete dann Unverständliches ohne jedes Großmachtgeklingel. Sie haben es also gefressen. Biden hat nach Informationen aus den USA nach dem Gespräch gleich die Führer der wichtigsten europäischen Staaten kontaktiert, die seine Verbündeten sind. Und wen könnte unserer anrufen? Lukaschenka und Maduro? Er ist allein auf dem Planeten.“
Moskau bleibt auf Kurs
Putin wird von seiner Strategie vorerst nicht abweichen, glaubt liga.net beruhend auf Experten-Interviews:
„Wir sollten nicht erwarten, dass Putin sein Verhalten nach den Gesprächen mit Biden ändert, erklärte Michael Botsurkiv, Journalist und ehemaliger Teilnehmer an der OSZE-Mission in der Ukraine. 'Putin wird tun, was er immer tut: was immer er will', prophezeite er gegenüber liga.net. Sollte sich Putin jedoch für eine neue Runde von Aggressionen gegen die Ukraine entscheiden, könnte ihn das die Macht kosten. ... Das Hauptziel dieser russischen Vorgehensweise ist es, den Westen zu verängstigen und von ihm rechtliche Garantien dafür zu erhalten, dass die Ukraine im russischen Einflussbereich bleibt und nicht in die Nato aufgenommen wird. Dies war Putins Botschaft an Biden.“
Immerhin überhaupt Verhandlungen
Ukrinform ist mit dem Ausgang des Gesprächs durchaus zufrieden:
„Die offizielle Pressemitteilung auf der Website des russischen Präsidenten wurde erst drei (!) Stunden nach dem Ende der Verhandlungen veröffentlicht. ... Das ist etwas überraschend, deutet aber darauf hin, dass der Kreml nicht glücklich ist und sich etwas hat einfallen lassen müssen, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen. ... Was zählt, ist die Tatsache der Verhandlungen selbst. Es bedeutet, dass beide Seiten verhandeln wollen. Allerdings ist es für die USA und Russland derzeit äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, sich auf irgendetwas Konkretes in Bezug auf die Ukraine zu einigen.“
Weitere Eskalation scheint aufgehalten
Die Iswestija sieht Anzeichen für leichte Entspannung:
„Noch während des Gesprächs kam aus Washington eine Nachricht, die Anlass für vorsichtige Hoffnungen bietet: Aus dem Entwurf für den neuen US-Verteidigungshaushalt wurden einige Wirtschaftssanktionen gegen Russland herausgenommen. ... Und noch wichtiger: Die Finanzhilfe für die Ukraine blieb auf dem bisherigen, nicht hohen Niveau von 300 Millionen Dollar. ... Schicksalsträchtige Entscheidungen wurden nach dem Gespräch keine verkündet. ... Angesichts des aktuellen Zustands der bilateralen Beziehungen ist aber jedes derartige Treffen äußerst nützlich. Denn je länger in den internationalen Beziehungen die Diplomaten schweigen, desto höher ist die Gefahr, dass an ihrer Stelle die Kanonen sprechen.“
Stillstand wäre noch die beste Lösung
Ob weitere Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland wirklich effektiv wären, bezweifelt The Times:
„Das würde zwar hohe wirtschaftliche Kosten nach sich ziehen, aber Russland wird schon seit Jahren mit Sanktionen bestraft. Und einige dieser Kosten würden unweigerlich auf die westliche Wirtschaft zurückfallen. Die Tatsache, dass westliche Regierungschefs wirtschaftliche Drohungen aussprechen, ist zugleich ein implizites Eingeständnis, dass diese keine Lust auf eine militärische Unterstützung Kyjiws verspüren, die über Angebote zur Ausrüstung und Ausbildung hinausgehen. Die größte Hoffnung kann der Westen darauf setzen, dass es ein andauernder, eingefrorener Konflikt wird. Das erfordert Geduld.“
Russland soll wohl abwarten und Tee trinken
Wie absurd sich die US-Forderungen aus Kreml-Sicht anhören, führt Ria Nowosti aus:
„Russland solle aufhören, der Ukraine zu 'drohen'. Übersetzt heißt das, Moskau soll passiv zuschauen, wie das Gebiet der Ukraine mit US- und britischen Militärbasen und geheimen Biolaboratorien zugestellt wird, wie die USA massenhaft Javelin-Systeme [zur Panzerabwehr] dorthin liefern und eine umfassende Militärkooperation aufziehen, wie sie vielen Nato-Mitgliedern nicht zuteil wird. Gleichzeitig ist Russland verpflichtet, die Ukraine stabil mit Gas, Kohle und allem Weiteren zu beliefern. Denn sonst gilt das als militaristische Erpressung mit Energieträgern. Sollte die Ukraine in die Nato eintreten, so hat Moskau das zu begrüßen oder wenigstens zu schweigen. Das wäre gutes, taugliches und 'unbedrohliches' Verhalten.“
Keine Einflusszonen wie im Kalten Krieg zulassen
Sollten Biden und Putin Entscheidungen über die Ukraine treffen, ohne Kyjiw in die Gespräche mit einzubeziehen, wäre das für Eesti Päevaleht ein Rückfall in alte Zeiten:
„Putin hat Russland zurück in die Lage der Sowjetära manövriert, in der die Führer der Sowjetunion und der USA untereinander die Dinge der Welt entschieden. Nein, Russland darf kein Vetorecht in der Frage haben, ob die Ukraine (oder ein anderes Land) mit der Nato zusammenarbeiten oder sich anschließen darf. Leider scheint die aktuelle ukrainische Führung auch selbst viel zu tun, um dem westlichen Verständnis der Staatsführung nicht gerecht zu werden. Das bedeutet aber nicht, dass die Einflussgebiete der Ära des Kalten Krieges wiederhergestellt werden dürfen.“
Es geht um die künftige Weltordnung
Was immer Biden tut oder lässt, hat auch Konsequenzen für China und Taiwan, betont Der Tagesspiegel:
„Wenn die USA tolerieren, dass ein relativ schwaches Russland die souveräne Ukraine unter seine Kontrolle zwingt, dürfte ein weit stärkeres China dies als Signal verstehen, es könne Taiwan besetzen, ohne ernste Konsequenzen fürchten zu müssen. So geht es bei dem Videogipfel um nicht weniger als die künftige Weltordnung. ... Putin möchte zurück in die Welt von Jalta: politische Kontrolle, soweit die Armeen des Kreml vordringen.“
Moskau hat nichts anzubieten
Putin ist kein verlässlicher Vertragspartner, meint das Tageblatt:
„Welche langfristigen Sicherheitsgarantien kann er beispielsweise der Ukraine anbieten, wenn diese künftig auf eine Mitgliedschaft in der nordatlantischen Allianz verzichten soll? Die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine durch die Russische Föderation? Dieses Versprechen gab Moskau der Ukraine bereits im Budapester Memorandum im Jahr 1994, als Kiew, damals die drittgrößte Atommacht, im Gegenzug sein gesamtes Nukleararsenal an Russland abtrat. Putin hat sich jedoch mit der Annektierung der Krim und der Unterstützung der Rebellen im Donbass als unzuverlässiger Vertragspartner erwiesen. Er hat demnach nichts Bedeutendes anzubieten.“
Stresstest für die Großmächte
Für keine der Seiten gibt es zwingende Gründe zur Eskalation, analysiert der Außenpolitikexperte Georgi Asatrjan in Wedomosti:
„Die ukrainische Frage hat für die USA keine grundlegende Bedeutung. Und für Russland sind die Gegensätze mit der Ukraine nicht unüberwindbar, sofern hinter Kyjiw keine Weltmacht ersten Ranges steht. Die aktuellen Spannungen sind ein Test für die Stärke und die Beherrschtheit großer Militärmächte. Also das Vorhandensein des Willens, Gewalt dort nicht anzuwenden, wo sie nicht nötig ist. Schafft Russland es, die Politik der 'Anspannung' nicht zu übertreiben? Gelingt es den USA, ihre nicht rational agierenden und engstirnigen Alliierten unter Kontrolle zu halten?“