Ukraine-Krieg: Was bringen historische Vergleiche?
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat in einer Video-Rede vor der israelischen Knesset am Sonntag davon gesprochen, Moskau plane die Vernichtung der Ukraine im Sinne einer "Endlösung". Russlands Präsident Putin wird seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine regelmäßig wahlweise mit Hitler oder mit Stalin verglichen. Ist das sinnvoll oder gefährlich? Europas Presse ist gespalten.
Wie Stalin und Hitler
Im Fall Putin ergibt eine historische Herangehensweise für das Handelsblatt durchaus Sinn:
„Um es provokativ zu formulieren: Er ist ein Stalin, der unter Paranoia litt und sein Volk nach Belieben massakrierte. Und er ähnelt, was seine Verachtung anderer Nationen angeht, durchaus auch einem Hitler. Putins Zorn gegen die Ukrainer ist so grenzenlos wie Hitlers Hass auf die 'Slawen', die er als Untermenschen klassifizierte. Wie Hitler, der den 'Lebensraum im Osten' für die überlegene arische Rasse sah, beansprucht Putin die Ukraine als Puffer gegen den Westen. ... Innenpolitisch lässt Putin wie Stalin sein Umfeld säubern. Kritiker nennt er 'Abschaum und Verräter'. ... Bleibt die Hoffnung, dass die Ukraine zu Putins Stalingrad wird, um noch einmal eine historische Parallele zu bemühen.“
Mariupol ist das neue Stalingrad
Visão sieht den Wendepunkt des Ukraine-Krieges erreicht:
„Mariupol kann sogar vollständig besetzt werden - die ganze Welt wünscht sich, dass dies nicht geschieht -, wenn es überhaupt noch etwas zu besetzen gibt, aber es wird nie in russischer Hand sein, so wie Stalingrad nie in deutscher war. Diejenigen, die eindringen, werden ebenfalls umzingelt, dezimiert und von ihrer logistischen Unterstützung abgeschnitten. Mariupol ist das Symbol für den unerschütterlichen Willen der Ukrainer, sich der russischen Macht nicht zu beugen und kein freies und souveränes Territorium aufzugeben. Diese Schlacht, die in die Geschichte eingehen wird und die Tausende von anonymen, aber zähen und unbesiegbaren Helden hat, fällt mit dem offensichtlichen Wendepunkt des Krieges in der Ukraine zusammen.“
Selenskyj wird das verziehen
Sein unglücklicher historischer Vergleich hat dem ukrainischen Präsidenten wenig geschadet, merkt Corriere del Ticino an:
„Trotz seines tadelnswerten Versuchs, die ukrainische Tragödie mit dem Holocaust zu vergleichen – die Tatsache übersehend, dass die Ukraine selbst in ihrer Geschichte mehrfach antisemitische Verfolgungen durchgeführt hat -, gelingt es ihm, die Menschen auf seiner Seite zu haben, nicht zuletzt dank seiner mutigen Entscheidung, das Land nicht zu verlassen. Eine Geste, die - vielleicht mehr als viele andere - die Bürger und die führenden Politiker Europas überzeugt hat, die sich nun offen auf die Seite Kyjiws stellen.“
Unangemessen und gefährlich
Historische Vergleiche sind für die Beurteilung der Gegenwart schädlich, findet The Guardian:
„Nein, der Krieg in der Ukraine ist nicht vergleichbar mit dem Brexit. Nein, Russen sind keine Nazis, und auch nicht die Ukrainer. Nein, Boris Johnson ist nicht Churchill oder Perikles. ... Solche Vergleiche sind abscheulich. Als Orientierungshilfe für die Gegenwart, ganz zu schweigen für die Zukunft, ist Geschichte Nonsens und etwas für Schlaumeier und Podcasts. ... Es ist verständlich, dass die Ukraine die Nato unter Druck setzen möchte, damit diese sich ihrem Kampf gegen Russland anschließt. ... Aber Bilder des blutgetränkten Europas im 20. Jahrhundert heraufzubeschwören, ist nicht der richtige Weg. ... Die meisten Kriege sind doch das Resultat von verzerrter Geschichte. “