Treffen in Istanbul: Erster Schritt zum Frieden?
Die Verhandlungsrunde zum Ukraine-Krieg am Dienstag hat Anzeichen konkreter Annäherung ergeben. Russland will nach eigenen Angaben die Angriffe auf Kyjiw reduzieren und sich dafür auf die Ostukraine konzentrieren. Die Ukraine formulierte Bedingungen für die Zustimmung zur Neutralität, darunter eine Staatengruppe, die für die Sicherheit des Landes bürgen soll. Europas Presse bleibt äußerst skeptisch.
Niemand will gegen Moskau für Sicherheit bürgen
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kann sich nicht vorstellen, wie internationale Sicherheitsgarantien für eine neutrale Ukraine durchgesetzt werden sollen:
„Abgesehen von der Frage, ob so ein Arrangement mit Putins Hegemonialansprüchen vereinbar wäre, ist ungewiss, ob nun gerade die westlichen Staaten der Ukraine eine verbindliche Zusage für militärischen Beistand machen würden; die Berliner Andeutungen sprechen da Bände. Der Westen kommt nicht aus dem strategischen Dilemma heraus, vor dem er seit dem 2008 versprochenen, aber nie vollzogenen Nato-Beitritt des Landes steht: Die Sicherheit, die die Ukraine fordert und verdient, muss gegen Russland durchgesetzt werden. Dazu ist aber keiner bereit.“
Reden allein ist noch kein Fortschritt
Die große Frage ist, wie ehrlich beide Seiten die Gespräche eigentlich führen, meint Jutarnji list:
„Wie sehr sind die ukrainisch-russischen Verhandlungen in Istanbul eine reale Möglichkeit der Beendigung des Konfliktes und Unterzeichnung eines Friedenskompromisses, oder nur ein Deckmantel, der zeigen soll, dass man etwas versucht? Das ist in erster Linie eine Frage für die russische Seite, die ihre Position mal verstärkt, mal abschwächt und dauernd der Lage an der Front anpasst in der Hoffnung, die westlichen Sanktionen, die langsam aber sicher die russische Wirtschaft zermürben, würden nachlassen. Diese Runde der Verhandlungen hat nicht gezeigt, dass die Parteien auf dem Weg einer Einigung sind, doch sie hat gereicht, um der jeweils eigenen Öffentlichkeit einen Erfolg zu präsentieren.“
Wichtigste Fragen noch ungeklärt
Russland darf die Bedingungen für Frieden nicht diktieren, betont Turun Sanomat:
„Der Frieden ist noch in weiter Ferne, da die wichtigsten Fragen noch nicht geklärt sind. … Putin braucht einen ehrenhaften Frieden, den er als Sieg präsentieren kann. Eine Rückkehr zur Situation zu Beginn des Jahres ist nicht möglich, daher sind die wichtigsten Fragen für Russland das Schicksal der Ostukraine und der Krim. Sollte Russland sein Ziel erreichen, dann hat es die Grenzen eines souveränen Staates durch militärische Maßnahmen verändert, was im Westen nicht als gut angesehen wird. … Um das Leid der Menschen zu beenden, ist ein Waffenstillstand in der Ukraine nötig. Frieden ist die beste Lösung, aber er darf nicht von Russland diktiert werden.“
Zustimmung im Land ungewiss
Es ist fragwürdig, ob die Ukrainer den bislang angestrebten Nato-Beitritt aufgeben werden, gibt Corriere della Sera zu bedenken:
„Die Idee wäre, einen Mechanismus zu schaffen, der dem Artikel 5 ähnelt, der die kollektive Verteidigung der Nato regelt: Ein Angriff auf ukrainisches Territorium würde eine automatische Reaktion der Garantiegeber auslösen. Probleme dürften dabei allerdings die notwendige Verfassungsänderung in der Ukraine und das Referendum aufwerfen, dem das mögliche Abkommen unterzogen werden müsste: Werden das ukrainische Parlament und das Volk nach so viel Zerstörung bereit sein, bei einer Neutralität nachzugeben?“
Theorie scheitert am Realitätscheck
In Ukrajinska Prawda hält der ehemalige Generalstaatsanwalt Juryj Lutsenko wenig von den vorgelegten Vorschlägen:
„Sie bieten uns eine Art kollektive Garantien an. Drei Tage - so heißt es da - nach einer Aggression werden China und Israel, Polen und Italien, die Türkei und Großbritannien für uns eintreten. Aber wie wollen sie dies in einem fremden Land mit einer ihnen unbekannten Logistik und Landschaft, mit unterschiedlichen Standards und Interessen tun? Zumal Manöver nur stattfinden können, wenn alle Garantiestaaten zustimmen. Sprich: mit Zustimmung des Aggressorlandes Russland. Ein Referendum unter den Bedingungen von Krieg, Besatzung und 10 Millionen Flüchtlingen abzuhalten, ist absurd. Tut man dies vor dem Abzug der russisch-faschistischen Truppen, ist es ein Verbrechen.“
Es drohen massive Luftschläge
Das Handelsblatt glaubt nicht an einen Verhandlungserfolg:
„Es mag sein, dass die Bodenoffensive vorerst zum Erliegen gekommen ist. Doch vieles spricht dafür, dass Putin seine Streitkräfte nur umgruppiert, seine Pläne ändert ... . Putin war zu siegesgewiss, zu überzeugt von der Überlegenheit seiner Armee - und er unterschätzte die Widerstandkraft der Ukrainer. Putin hat Russlands Reputation ruiniert, er hat seinem Land wirtschaftlich großen Schaden zugefügt - und das alles für minimale Landgewinne? Nein, das ist wenig wahrscheinlich. Vielmehr dürfte er jetzt sagen: Wir haben verhandelt, die Ukraine gibt nicht genügend nach, nun kommt es zum ganz großen Krieg, mit massiven Luftschlägen als Auftakt.“
Die Menschen im Osten nicht vergessen
Russische Truppenverlegungen weg von Kyjiw sind für manche Ukrainer auch eine schlechte Nachricht, erinnert der Tages-Anzeiger:
„[S]ollte Moskau umsetzen, was es angekündigt hat, wäre dies für die Grossstadt Kiew ein Segen und für die ukrainische Armee ein mächtiger Achtungserfolg. Für den Südosten der Ukraine jedoch, dort, wo schon jetzt am härtesten gekämpft wird, dürfte dann der totale Krieg ausbrechen: Im abgeriegelten und verzweifelten Mariupol etwa oder in den umkämpften Regionen Luhansk und Donezk. ... Die beispiellose Solidaritätswelle in ganz Europa, die auch davon lebt, dass der Krieg in all seiner Brutalität für alle sichtbar ist, könnte schnell abflauen, wenn sich ein endloser regionaler Konflikt weit im Osten abzeichnet.“
Ukraine beweist ihre Stärke
Sollten sich die russischen Angriffe tatsächlich auf den Osten des Landes konzentrieren, könnte das den Konflikt zugunsten der Ukraine verschieben, glaubt Adevărul:
„Auch die ukrainische Armee wird dann bei Kyjiw, Lwiw, Odessa und anderen Gebieten entlastet und kann Richtung Donbass marschieren. Und wenn sie bei großräumigen Operationen den Russen zu trotzen vermochte, wird sie das auf engerem Gebiet noch besser tun. … In Istanbul wurde über die militärische und atomare Neutralität der Ukraine diskutiert, über ihren Beitritt zur EU, aber nicht zur Nato. Angesichts der bisherigen militärischen Hilfe braucht das Land diese vorläufig auch nicht mehr.“
Nicht auf kurzlebigen Frieden setzen
ABC warnt vor zu schnellem Einknicken:
„Die optische Täuschung des Friedens ist vielleicht verlockend für eine erschöpfte Welt. ... Der westliche Pragmatismus führte bereits 2014 zur Abtretung der Halbinsel Krim auf Kosten einer Ukraine, der Moskau nun einen Verhandlungsweg aus dem Donbass anbietet. ... Der größte Misserfolg des Kremls ist im Moment nicht der ungewisse militärische Rückzug aus der Ukraine, sondern der Zusammenstoß mit der gemeinsamen Front eines Europas, das der russische Totalitarismus entschlossener und stärker gemacht hat. Nachzugeben wäre, wie schon in der Vergangenheit, der kürzeste Weg zu einem beruhigenden, aber kurzlebigen Frieden.“