Getreide aus der Ukraine: Keine Einigung in Ankara
Die russische Marine blockiert seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine Schwarzmeer-Häfen und damit den ukrainischen Getreideexport. Russlands Außenminister Lawrow wies gestern alle Anschuldigungen einer Verantwortung für die drohende Hungersnot zurück und verwies auf Kyjiw. Nach einer Entschärfung von Seeminen sei Moskau bereit, einen sicheren Korridor zu garantieren. Europas Presse schüttelt den Kopf.
Erdoğans Tauschhandel
Die Türkei verfolgt bei den Verhandlungen eigene Ziele, analysiert Večernji list:
„Lawrow ist nicht nur wegen des ukrainischen Getreides nach Ankara gekommen, sondern auch wegen der türkischen Ankündigung einer Offensive gegen die Kurden in Nordsyrien. Um die Operation in dieser Gegend weiterzuführen, braucht die Türkei Garantien von Russland, da sie im Krieg in Syrien entgegengesetzte Parteien unterstützt haben, was nicht ohne Opfer auf beiden Seiten ablief. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die türkische Lösung des Getreideproblems ein solches Zugeständnis Russlands beinhaltet. ... Recep Tayyip Erdoğan scheint sein Schaufenster neu zu gestalten und bietet, aber verlangt auch viel.“
Russlands Bluff
Corriere della Sera analysiert die Interessen des Kremls bei den Verhandlungen:
„Der Vorschlag Ankaras, einen entminten Korridor von Odessa zu einem neutralen Meer zu öffnen, der von den Türken selbst garantiert wird, und eine russische Zusage, diesen Korridor nicht für einen Angriff auf den ukrainischen Hafen zu nutzen, ist laut UN ein 'vernünftiges und machbares' Ziel. Vernünftig vielleicht. Machbar wohl weniger. Denn Moskau will, dass Kyjiw die Minenräumung übernimmt und schlägt vor, die Getreideladungen aus Odessa zu eskortieren, aber nur wenn Exportsanktionen aufgehoben werden ... Es hat somit nur fünf Tage gedauert, bis man erkennen konnte, dass der Zar wieder geblufft hat: Russland nutzt die Getreideblockade, um eine Lockerung der Sanktionen zu bewirken.“
Spiel mit dem Hunger
Der Tages-Anzeiger traut den russischen Versprechen nicht:
„Dass Grundnahrungsmittel keine Verhandlungsmasse sein dürfen, um politische Ziele wie das Ende von Sanktionen zu erpressen, sollte nicht nur weltumspannender Konsens sein, sondern Handlungsmaxime für jeden, der auf der Ebene der internationalen Politik agiert. Bei den derzeitigen Verhandlungen sitzen die Vereinten Nationen jedoch lediglich mit am Tisch, anstatt den Geleitschutz für die Frachter selbst zu organisieren. … Selbst wenn die Verhandlungen nun zunächst ein Ergebnis bringen, wird Putin weiter mit dem Szenario drohen können, dass ausbleibende Getreidelieferungen Hunger und Fluchtbewegungen Richtung Europa zur Folge haben könnten. … Deals unter starken Männern sind selten wirklich gute Nachrichten.“
Allein der Kreml ist schuld
Das Verhalten des Kremls ist an Zynismus kaum mehr zu übertreffen, empört sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Erst blockiert Russland ukrainische Häfen, stellt selbst den Export seines Getreides ein und raubt dann auch noch die Ernten der Ukraine. Jeder einzelne Schritt ist bereits eine weitere russische Kriegserklärung, in diesen Fällen gegen die Ernährungssicherheit vieler Menschen. Dreist behaupten dann die Kriegsherren im Kreml auch noch, an der drohenden Hungersnot in vielen Ländern seien ja die gegen Russland verhängten Sanktionen schuld. Dabei unterliegen die Getreideausfuhren aus Russland keinerlei Sanktionen. ... [E]s ist allein Russland, das für die Not vieler Menschen verantwortlich ist.“
Weizen gibt's nur mit Propaganda
La Stampa ist ebenfalls entrüstet:
„Um das in den Silos am Schwarzen Meer gelagerte Getreide wird ein Dreikampf geführt. Die Ukraine hat es produziert. Afrika erwartet es. Russland kontrolliert es. Der amtierende Präsident der Afrikanischen Union, der Senegalese Macky Sall, ging zum Kreml, um dort anzuklopfen. Er fand einen freundlichen russischen Präsidenten vor. ... Die Moskauer Version lautet: Die Ukrainer sind nicht in der Lage, ihr Getreide zu exportieren? Russland ist bereit, dies für sie von den Häfen aus zu tun, die es mit Kanonen beschossen hat. Dazu müssten in den Gebieten, die Kyjiw noch kontrolliert - insbesondere in Odessa -, die Minensperren entfernt werden. ... Und die russischen Getreide- und Düngemittelausfuhren, die für Afrika ebenfalls wichtig sind und [laut Kreml] wegen der EU-Sanktionen blockiert sind, müssten freigegeben werden.“
Große Politik hemmt pragmatische Lösung
Mit etwas weniger Politik-Poker wäre ein Deal einfacher zu erzielen, meint Radio Kommersant FM:
„Moskau gibt zu verstehen, dass es gut wäre, wenn die Sanktionen wenigstens teilweise aufgehoben würden. Der Westen und die UN antworten: Okay, vielleicht machen wir eine Ausnahme für Kalidünger. ... Aber dem Kreml ist das viel zu wenig. Die USA verlautbaren, Feilschen sei hier nicht angebracht. Russland deutet seinerseits an, als größter Getreide-Exporteur könne es selbst die Ukraine ersetzen. Unlängst waren deshalb in Sotschi Vertreter afrikanischer Staaten zu Besuch. Washington beschuldigte Russland umgehend des Diebstahls ukrainischen Korns und warnte potenzielle Abnehmer, es nicht zu wagen, dies zu kaufen.“