Hochrangige Entlassungen: Worum geht es Selenskyj?
Der ukrainische Präsident hat seinen Geheimdienstchef und Jugendfreund Iwan Bakanow sowie die Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa suspendiert. Hintergrund sind zahlreiche Verdachtsfälle von Landesverrat durch Angehörige des ukrainischen Justiz- und Sicherheitsapparates. Europas Presse versucht einen Blick hinter die Kulissen.
Geheimdienst ist Einfallstor für Russland
Der Grund, warum diese Entscheidung notwendig war, liegt auf der Hand, findet Le Temps:
„Ist das der Beginn einer gefährlichen Hexenjagd unter Brüdern und Schwestern? Nein, es ist vielmehr eine Erinnerung daran, dass die beiden Posten für dieses Land, das sich im Krieg befindet, von existenzieller Bedeutung sind. Als direkter Abkömmling aus der Zeit der Sowjetunion ist der ukrainische Geheimdienst ein beliebtes Einfallstor für den ehemaligen KGB. Die ehemaligen Agenten aus Russland und der Ukraine teilten vor nicht allzu langer Zeit noch alles: die Ausbildung, die Methoden, die Weltanschauung. Moskau wäre sehr unvernünftig, wenn es diese gemeinsame Vergangenheit nicht maximal ausnutzen würde.“
Probleme wurzeln tief
Die Entlassungen spiegeln nicht nur die Furcht vor russischen Spionen und Frust mit dem Geheimdienst wider, glaubt Irish Independent:
„Sie verweisen außerdem auf politische Spannungen, die ihren Ursprung in der Vorkriegszeit haben und die mit der Invasion vom 24. Februar weitgehend pausiert wurden. ... Beobachter ukrainischer Politik werden sehen, dass außerdem Rivalität im Spiel ist. Der Nachfolger der Generalstaatsanwältin Wenediktowa, Oleksij Simonenko, steht dem Stabschef von Selenskyj, Andrij Jermak, nahe. Und Jermak wurde im Laufe der Jahre mehreren Vergehen beschuldigt, wie beispielsweise dem Herauszögern von Reformen zur Korruptionsbekämpfung. ... Die Jagd auf Verräter und russische Spione ist eine Sache, sich durch die zerrüttete ukrainische Innenpolitik zu navigieren, eine ganz andere.“
Es bleibt intransparent
Correio da Manhã fragt sich, was hinter der Entlassung von Iryna Wenediktowa steckt:
„Es ist die größte Säuberung hochrangiger Verwaltungsbeamter seit Kriegsbeginn. Die Gründe für die Entlassung von Bakanow sind klar, die von Wenediktowa nicht. ... Die Generalstaatsanwältin hatte die Ermittlungen wegen der Gräueltaten gegen Zivilisten in Butscha und Irpin in der Hand. ... Es sei daran erinnert, dass die ukrainische Version der Geschehnisse an diesen Orten nicht immer alle in Kyjiw anwesenden ausländischen Journalisten überzeugte. Die Einschränkungen, die der Presse auferlegt wurden, bis Selenskyj den Boden bereitet hatte, weist auf inakzeptable Bedingungen bei der Sammlung von Zeugenaussagen über die dortigen Ereignisse hin. ... Die Entlassung von Wenediktowa zerstreut diese Zweifel nicht.“
Vorpreschen rächt sich
Laut Nowaja Gazeta Ewropa waren für die Entlassung der Generalstaatsanwältin interne Machtspiele maßgeblich:
„Gesprächspartner in Regierungskreisen nannten den Grund, warum Wenediktowa angeblich in Ungnade fiel: Es war ihr angespanntes Verhältnis zur Präsidentenverwaltung und besonders zu deren Leiter Andrij Jermak. Insbesondere erregte die mediale Aktivität der Generalstaatsanwältin Unwillen, die im Sendemarathon der vereinigten nationalen TV-Kanäle ebenso oft zu sehen ist wie der Präsident. Außerdem war da noch ihre Entscheidung, Verfahren gegen russische Kriegsgefangene beschleunigt vor Gericht zu bringen. Das könnte, sagen Teilnehmer der Verhandlungen mit den Russen, zu Prozessen gegen ukrainische Gefangene in Russland und einem Ende von deren Austausch führen.“
Ein fehlgeschlagenes Experiment
Rzeczpospolita kommentiert:
„Vor seiner Tätigkeit beim SBU hatte Bakanow nie mit den Geheimdiensten zu tun gehabt, da er das Filmstudio Kwartal 95 leitete, das Selenskyj gehörte. ... Diese Ernennung wurde von Anfang an kritisiert. Kritiker behaupteten, dass eine Institution, die für die Sicherheit des gesamten Landes zuständig ist, von jemandem geleitet werden sollte, der über Erfahrung auf diesem Gebiet verfügt. Das regierende Lager entgegnete, dass Leute von 'außerhalb des alten Systems' in den Geheimdiensten aufräumen und die Korruption beenden würden. Eine Art Experiment. Das Gleiche gilt für Wenediktowa, eine Universitätsdozentin, die nie in der Staatsanwaltschaft gearbeitet hatte. ... Es scheint, dass dieses Experiment unter Kriegsbedingungen gescheitert ist.“
Neues Kapitel
Es handelt sich um einen folgenschweren Schritt, glaubt Le Soir:
„Als Kollateralschaden könnte diese Entscheidung die Koordination der Dienste an der Staatsspitze schwächen, so sehr stützte sich Selenskyj auf seinen Freund Bakanow. Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar ist die ukrainische Staatsspitze zum ersten Mal von einer Säuberungsaktion betroffen. Eine Nuance, die von Bedeutung ist: Es handelt sich um Vertraute von Präsident Selenskyj, nicht um Regierungs- oder hochrangige Armeemitglieder. Das ist das Zeichen, dass Selenskyj beschlossen hat, ein neues Kapitel aufzuschlagen, um sich und vor allem die Ukraine vor der Bedrohung Russlands zu schützen.“