Al-Kaida-Chef al-Sawahiri in Afghanistan getötet
Die USA haben am Wochenende den Anführer der Terrororganisation Al-Kaida, Aiman al-Sawahiri, per Drohnenangriff getötet. Er sei auf dem Balkon seiner Unterkunft in der afghanischen Hauptstadt Kabul ums Leben gekommen, hieß es nach Angaben der US-Regierung. Al-Sawahiri war der Nachfolger von Osama bin Laden und galt als zentrale Figur bei den Anschlägen vom 11. September 2001. Vorgehen und Folgen werden heftig debattiert.
Ein Nest für Terroristen
Die USA sollten sich nach ihrer Aktion fragen, wie der Terrorchef offenbar unbehelligt in Kabul leben konnte, schreibt Politiken:
„So großartig es für Biden und seine Leute ist, al-Sawahiri aus dem Spiel genommen zu haben, so beunruhigend ist es, dass sich der meistgesuchte Terrorist der Welt mitten in der afghanischen Hauptstadt aufhielt. Es macht deutlich, dass sich Afghanistan unter den Taliban zu genau dem Terroristennest entwickelt, von dem viele befürchteten, dass es nach dem chaotischen Rückzug der Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr entstehen würde. Wie viele Terroristen verstecken sich derzeit in dem von den Taliban kontrollierten Staat?“
Stärkung des IS möglich
Von der Schwächung Al-Kaidas könnten andere Islamistenorganisationen profitieren, warnen die US-Terrorforscher Haroro Ingram, Andrew Mines und Daniel Milton in The Conversation:
„Die Ausschaltung von al-Sawahiri sagt uns auch nicht, ob die US-Strategie nach dem Rückzug anderen Dschihadistengruppen in der Region wie dem Islamischen Staat in Chorasan, der sich den Taliban und ihrer Expansion in Afghanistan entschieden entgegenstellt, Einhalt gebieten kann. … Viele Dschihadisten könnten den Islamischen Staat in Chorasan für die bessere Wahl halten, wenn sie die Taliban als zu schwach betrachten, die wichtigsten Anführer von Al-Kaida und dessen Mitgliedsorganisationen zu schützen, sowie als unfähig, Afghanistan ohne die Hilfe der USA zu regieren.“
Außenpolitik schert den US-Wähler kaum
Das Lob für die Tötung von al-Sawahiri verschafft Biden eine möglicherweise nur kurze Atempause, schätzt NRC Handelsblad:
„Es ist sehr die Frage, ob er viel Wähler-Gewinn auf dem Gebiet [der Außenpolitik] verbuchen kann. Solange die Benzin-Preise hoch bleiben, wird es dem amerikanischen Wähler nicht viel ausmachen, welche militärischen Manöver China im Südchinesischen Meer entwickelt. Befreiend für Biden ist aber, dass in der Außenpolitik die Polarisierung weniger erstickend ist. ... Das zeigen die Reaktionen auf die Hinrichtung des Al-Qaida-Führers Aiman al-Sawahiri an diesem Wochenende. Republikanische Politiker klopfen Präsident Biden auf die Schulter für seine Entscheidung. Aber in einem Wahljahr bekommt man von den politischen Rivalen keine Geschenke.“
Enormer Verlust für Terrororganisation
Eine weitere Schwächung Al-Kaidas, urteilt France Inter:
„Objektiv ist die Organisation, die die Anschläge vom 11. September geplant und ausgeführt hat, operativ nur noch der Schatten ihrer selbst. Die von den gesamten westlichen Geheim- und militärischen Diensten - plus weiteren - durchgeführte Verfolgung war langfristig effizient. … Der Tod des Chefs der Organisation ist daher ein wirklich harter Schlag für Al-Kaida: Al-Sawahiri war der Dienstälteste mit dem höchsten Rang. Sein Tod bedeutet für die auf Ideologie und Religion basierende Terrororganisation den Verlust eines wesentlichen Elements: des Prestiges und der Legitimität eines besonders einflussreichen Dschihad-Intellektuellen.“
Nachfolger könnte gefährlicher sein
Langfristig könnte sich die Tötung von al-Sawahiri als Fehler erweisen, befürchtet Iltalehti:
„Der charismatische bin Laden und die blutrünstigen al-Baqhdadi und al-Sarkawi waren hervorragend darin, potenzielle junge Dschihadisten für ihre Organisationen zu begeistern. Diese Fähigkeit fehlte al-Sawahiri. In seiner Zeit hat Al-Kaida nichts wirklich Bedeutendes erreicht. … Al-Sawahiri könnte durch jemanden ersetzt werden, der viel charismatischer und gefährlicher ist und der einen weiteren Anschlag im Stil von 9/11 als wesentlich für ein Wiedererstarken von Al-Kaida ansieht und der von Geldgebern, die über die Ermordung von al-Sawahiri verärgert sind, und von jungen islamistischen Extremisten unterstützt wird. Dieser würde dann eine größere Gefahr für die USA darstellen.“
Berlin muss Stellung beziehen
Die taz positioniert sich klar:
„Es war ein staatlicher Mord. Diese Aussage ist weder abwegig noch ungewöhnlich. Sie entspricht der herrschenden Auffassung der europäischen Völkerrechtslehre, die den Kampf gegen den Terror klar als polizeiliche Aufgabe der Kriminalitätsverfolgung definiert und nicht als erlaubte staatliche Kriegsführung. ... Nun kann sich die Bundesregierung nicht einfach zurücklehnen ... . Denn viele US-Drohnen-Angriffe nutzen Einrichtungen auf der US-Airbase in Ramstein als Verbindungsstation für die Drohnensteuerung. ... Schon lange gibt es daher Forderungen aus der Friedensbewegung, Deutschland solle den USA die Nutzung der Air Base verbieten, zumindest für rechtswidrige Drohnenangriffe.“
Weit entfernt vom Geist der Nürnberger Prozesse
Interia ist enttäuscht von den USA:
„Heutzutage gilt die Tötung selbst der schlimmsten Schurken als offensichtliche Abweichung von den Standards, für die sich die Amerikaner selbst rühmen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in diesem Kontrast eine gewisse gegenwärtige Ohnmacht der führenden Politiker, der Geheimdienste und der Justiz sichtbar wird. ... Auf jeden Fall scheinen die heutigen Vereinigten Staaten weit vom Geist Nürnbergs [der Nürnberger Prozesse gegen führende Nationalsozialisten] entfernt zu sein, von dessen moralischen Standards, die den Westen zumindest bis zu einem gewissen Grad auszeichnen sollten.“
Westen hat sich in den Taliban getäuscht
Der Vorfall hat eine traurige Wahrheit ans Licht gebracht, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Unter den Taliban breiten sich in Afghanistan wieder globale Terrorgruppen wie die Al-Kaida und der IS aus. … Der überstürzte Abzug der amerikanischen und anderer westlicher Truppen aus Afghanistan und die dadurch ermöglichte Machtübernahme der Taliban vor einem Jahr waren für das Land in jeder Hinsicht verheerend. Die Islamisten haben dort ein neues Schreckensregime geschaffen und treten die Rechte von Frauen, religiösen Minderheiten und Andersdenkenden mit Füssen. … Man war so naiv anzunehmen, dass sich Afghanistan unter einem autoritären Taliban-Regime stabilisieren werde. … Eine Anerkennung des Regimes in Kabul ist nun auf jeden Fall noch mehr in die Ferne gerückt.“