Visa-Sperre für russische Urlauber?
Sieben Staaten an der Ostflanke der EU appellieren an die übrigen Mitgliedsstaaten, die Ausstellung von Schengen-Visa an russische Touristen auszusetzen. Auch der ukrainische Präsident Selenskyj fordert diese Maßnahme. Am Dienstag werden sich die EU-Außenminister mit dem Vorschlag befassen. Europas Presse ist geteilter Meinung.
Reiseverbot widerspricht Europas Grundwerten
Público lehnt ein allgemeines Einreiseverbot für alle russischen Staatsbürger ab:
„Die Idee einer kollektiven Bestrafung der Russen könnte mehr Probleme als Möglichkeiten schaffen. Wenn sich Europa in diesem Konflikt zu Recht als Sachwalter der bürgerlichen Freiheiten, der Demokratie, der Toleranz und der Achtung der Grundrechte präsentiert, dann ist es sinnvoll, diese mit Augenmaß anzuwenden. Es könnte kontraproduktiv sein, den Russen die Vorstellung zu vermitteln, dass sie schuldig sind und diese Schuld dadurch sühnen müssen, dass sie in ihrem eigenen Land eingesperrt sind.“
Eiserner Vorhang stoppt den Krieg nicht
Ein Visa-Verbot würde den Westen und Russland in die Vergangenheit zurückwerfen, mahnt die russische Bürgerrechtlerin und Journalistin Soja Swetowa in einem Gastbeitrag in Le Monde:
„Westliche Politiker - und nicht etwa die russische Führung - wollen die Sowjetunion endgültig wiederauferstehen lassen, indem sie den Eisernen Vorhang neu errichten. Ohne auch nur darauf zu warten, dass der Kreml dies tut. Wir, die wir in Russland leben, wir, die wir zu Sowjetzeiten dort gelebt haben, werden das aushalten. Aber - und das ist der springende Punkt - dieser Eiserne Vorhang und die Strategie, sich der Russen und alles Russischen zu entledigen, werden nicht zum Ziel führen, nämlich die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu beenden.“
Kollektive Verantwortung anerkennen
Das Visa-Verbot ist ein wichtiges Instrument im Konflikt mit Russland, findet La Libre Belgique:
„In der aktuellen Debatte geht es um die Frage, ob die kollektive Verantwortung des russischen Volkes anerkannt werden soll, das seit 22 Jahren passiver Komplize eines Regimes ist, das Angst und Schrecken verbreitet, angefangen mit dem verheerenden Tschetschenienkrieg. Eine zweite, nicht weniger wichtige Frage ist die nach der Fähigkeit der Europäer, auf geopolitische Veränderungen zu reagieren. Die Entscheidung über Visa ist nur eines der Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, um Russland als den Gegner zu behandeln, zu dem es sich selbst gemacht hat.“
Schock für Russlands feine Gesellschaft
Der Politologe Sorin Ioniță plädiert in Contributors dafür, für Russen lediglich die Erteilung von Visen der Kategorie C auszusetzen, die einen Aufenthalt im Schengen-Raum für maximal 90 Tage im Laufe von sechs Monaten erlauben:
„Das würde den Großteil des Problems lösen und würde schon reichen. Es bliebe viel Raum, um Putins Gegner zu unterstützen oder Studenten und Forschern zu helfen, mit dem Westen in Kontakt zu bleiben. Aber es wäre ein Elektroschock für die feine Gesellschaft in Moskau und St. Petersburg, die bislang nicht realisiert hat, dass sie sich in einem verheerenden Krieg befindet, weil Putin bisher alles getan hat, um sie vor Konsequenzen oder unangenehmen Nachrichten zu schützen.“
Moralisch angemessene Maßnahme
In Anbetracht des anhaltenden Angriffskriegs gegen die Ukraine ist ein Reiseverbot für Russen gerechtfertigt, meint Jutarnji list:
„Das ist keine Maßnahme, die Putins Regime stürzen wird, und sicherlich freut sich Erdoğan, der mit noch mehr Russen rechnet, die ihr Geld in türkischen Ferienorten lassen werden. Aber diese Maßnahme würde zeigen, dass Europa kein Blutgeld möchte. Hier geht es nicht um Dissidenten, sondern um Menschen, denen egal ist, welche Gräueltatenihr Land vollbringt, während sie sorgenfrei in Ibiza, Bled oder Opatija baden. Deshalb wäre es gut, Russland auf diese Art zu isolieren.“
Prinzipien und Arithmetik sprechen dagegen
Diena.lv erklärt, warum es in Europa auch Widerstand gegen eine Visa-Sperre gibt:
„Für einen Teil des sogenannten alten Europas sind ideologische Prinzipien seit langem wichtiger als echte Bedrohungen (man denke nur an die europäische Unfähigkeit, radikale Islamisten aus mehreren EU-Ländern auszuweisen), während für andere ihre wirtschaftlichen Interessen am wichtigsten sind. Zudem gibt es ja auch noch das Argument, dass der überwältigenden Mehrheit der russischen Bürger die Verfügbarkeit oder Nichtverfügbarkeit von Schengen-Visen gleichgültig ist. Die Visa-Verweigerung wird also nur den nicht sehr großen Teil der russischen Bevölkerung betreffen, der auf Europa beziehungsweise den Westen orientiert ist.“
Schlichte Reaktion auf Wähler-Emotionen
Der prominente Medienmanager Ilja Krasilschtschik sieht in einem Facebook-Post in der Visa-Diskussion populistische Motive dominieren:
„In Lettland und Estland stehen Wahlen an. Die Strenge der Erklärungen muss man in diesem Kontext sehen. In Estland, Lettland und Finnland herrscht reale Demokratie, Politiker bemühen sich um Wählerstimmen. Die Wähler sehen in diesem Sommer in ihren Ländern einen Haufen entspannte Russen und in ihren Fernsehern die zerbombte Ukraine. Diese beiden Bilder passen nicht zusammen - und niemand gräbt tiefer, dass die einen bombardieren und andere anreisen. ... Mir scheint, wenn im Herbst der Touristenstrom nachlässt, verschwindet auch das Thema. ... Und je weiter weg von Russland, umso gelassener sind die Wortmeldungen.“
Nötig ist genau das Gegenteil
Ein Visa-Verbot für Russen würde sie der Perspektive berauben, die sie brauchen, findet The Spectator:
„Allen Menschen mit russischem Pass zu verbieten, problemlos nach Europa zu reisen, ist genauso rassistisch und verfehlt wie es Donald Trumps schwachsinniger 'Muslim travel ban' war. ... Es würde Putin recht geben, wenn er behauptet, dass der Krieg von pathologischen Russlandfeinden geführt und vom Hass auf alle Russen angetrieben wird. ... Aber jungen Russen zu erlauben, in der EU und Großbritannien frei zu reisen und zu studieren, wäre ein großer Schritt, Putins gerontokratischen und giftigen Würgegriff auf sein Land zu lockern und seine Versuche zu unterminieren, Russland wieder in Richtung einer sowjetischen Zukunft zu drängen.“
Kein Menschenrecht auf Après-Ski in den Alpen
Russen, die sich Urlaub im Ausland leisten können, sollen spüren, dass der Krieg gegen die Ukraine nicht ohne Folgen bleibt, meint die Aargauer Zeitung:
„Sanktionen treffen immer auch Unschuldige, das lässt sich nicht vermeiden. Eine Einreisesperre würde aber nur eine kleine 'unschuldige' Minderheit treffen. Ausserdem gibt es kein Menschenrecht auf Shopping in Paris oder Après-Ski in den Alpen. Das Signal einer Einreisesperre wäre dagegen ein mächtiges: Vor allem finanzkräftige Russen, die sich Urlaub im Westen leisten können, würden daran erinnert, dass die misslungene Invasion Russland zum Pariastaat gemacht hat und eine Rückkehr zur Normalität erst nach dem Rückzug aus der Ukraine denkbar ist.“
Wasser auf die Mühlen der Kreml-Propaganda
Der Deutschlandfunk findet das nicht zielführend:
„Wo werden die Russinnen und Russen eher verstehen, was ihr Land anrichtet – in Russland oder im Westen? Dort, wo sie weiter von anti-westlicher Propaganda beschallt werden oder dort, wo sie auf kritische Stimmen stoßen? ... Die Kreml-Propaganda versucht, alle mentalen Brücken der Russen zum Westen zu sprengen. „Die Deutschen, Engländer, Franzosen mögen euch nicht; für die seid ihr nur Menschen zweiter Klasse; es ist gut, wenn wir uns abschotten.“ So tönt es seit Jahren aus dem russischen Staats-TV. Mit einem Verbot von Touristenvisa würde die EU dieser Propaganda nur wertvolle Nahrung geben.“
Falsche Kehrtwende von Selenskyj
Das oppositionelle Portal strana.news äußert sich kritisch zu Selenskyjs Forderung, Russen das Reisen zu verbieten:
„Die Befürworter der Kremlpolitik in Russland haben Selenskyjs Ideen mit Begeisterung aufgenommen. Sie glauben, dass solche Schritte die russische Gesellschaft weiter um Putin herum konsolidieren und die Antikriegsstimmung verringern werden. Mit Schadenfreude erwarten sie die russischen Oppositionellen, die die Ukraine und Selenskyj aktiv unterstützt haben und die Selenskyj wieder nach Russland schicken will. ... Zuvor hatte der ukrainische Präsident noch das Gegenteil gefordert: Nach der russischen Invasion hatte er gesagt, dass die Russen besser ihr Land verlassen sollten, damit sie keine Steuern an den Kreml zahlen.“
Das Reiseprivileg streichen
Hospodářské noviny begrüßt die Initiative:
„Laut einer der jüngsten Meinungsumfragen in Russland unterstützen zwei Drittel der Russen Putins Politik - einschließlich des Angriffs auf die Ukraine. Einige mögen argumentieren, dass mit dem Vorschlag aus Estland und Finnland hier jetzt das Prinzip der Kollektivschuld angewendet wird. Aber nur ein solcher Schritt kann den kleineren Teil der russischen Gesellschaft, der am Reisen interessiert ist und die Annehmlichkeiten und Vorteile der funktionierenden Staaten der Europäischen Union genießen möchte, dazu zwingen, darüber nachzudenken, was ihre Regierung verursacht und dass sie Kriegsverbrechen begeht. 'Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht', schrieb die estnische Ministerpräsidentin auf Twitter. Recht hat sie.“
Die ganze EU muss mitziehen
Wegen des Angriffskriegs sollten Lustreisen für Russen so weit wie möglich gestoppt werden, findet Postimees:
„Finnland erwägt wie Estland und Lettland, die Ausgabe von Touristenvisa zu stoppen, versteht aber, dass dies das Problem nicht löst. Die Lösung besteht darin, dass die ganze Europäische Union aufhört, Touristenvisa an Russen zu erteilen, so wie Kaja Kallas gestern auf Twitter forderte. ... Der ukrainische Präsident und die Premierminister von Finnland und Estland sind auf dem richtigen Weg. Solange die Russen gegen Europa Krieg führen wollen, haben sie hier als Urlauber nichts zu suchen. Humanitäre Gründe – wie bei verfolgten Journalisten oder Dissidenten – sind eine andere Sache.“
Gezielte Verbote statt Pauschalurteile
Für Sme wäre es ein Fehler, russische Bürger kollektiv am Reisen zu hindern:
„Deutsche etwa erinnern sich noch daran, wie deutschsprachige Urlaubergruppen noch lange nach dem Krieg in europäischen Kurorten angesehen wurden. Da wurde untersucht, ob sie zu laut sprechen, ob das etwas über ihr Wesen aussagt oder ihren Wunsch, andere zu unterdrücken. ... Wir bleiben vorerst bei unserer Meinung, dass russische Reisende eine zu breite Kategorie sind. Listen, die sich gegen konkrete 'Regime'-Leute richten, scheinen besser geeignet. ... Anderen, auch wenn es ihnen an Geschmack oder Gewissen mangelt, sollte die Möglichkeit zum Reisen nicht vorenthalten werden.“