Proteste in Frankreich: Eskaliert die Lage?
Zehntausende Menschen, darunter der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon und Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, haben am Sonntag in Paris höhere Löhne, eine Preisbremse, eine Übergewinnsteuer und mehr Klimaschutz gefordert. Parallel geht der Streik der Tanklagermitarbeiter unvermindert weiter. Die Regierung hat die Streikenden nun zur Arbeit verpflichtet - was eigentlich nur bei Naturkatastrophen und Krieg vorgesehen ist.
Freiheiten in Gefahr
Eine Gruppe von Rechtsanwälten und Juraprofessoren warnt in einem Gastbeitrag in Libération:
„Wir kennen die freiheitsfeindlichen Einschränkungen des Ausnahmezustands, der seit den Terroranschlägen von 2015 von den aufeinander folgenden Regierungen eingeführt wurde, die diese juristische Möglichkeit nutzten, um soziale Bewegungen zu überwachen und zu unterdrücken. Wir kennen ebenfalls die Irrfahrten und den Missbrauch der Regierung bei der Umsetzung des Gesundheitsnotstands 2020 und 2021. ... Unter diesen Bedingungen können wir nicht umhin, vor der Gefahr zu warnen, dass wir unsere in erbittertem Kampf errungenen Freiheiten eine nach der anderen verlieren. ... Das Streikrecht ist wie die Versammlungs-, die Vereinigungs- und die Meinungsfreiheit ein Grundrecht, das nicht von einer politischen Agenda abhängen darf.“
Eine Warnung für Europa
El País gibt zu bedenken:
„Frankreich ist der EU-Staat mit der niedrigsten Inflationsrate (6,2 Prozent) und gehört zu denen, die am meisten in das soziale Polster investiert haben. ... Und doch hat sich gerade in Frankreich eine breite soziale Bewegung für höhere Löhne und gegen die steigenden Lebenshaltungskosten mobilisiert. ... Die Demonstrationen und Kundgebungen haben etwas typisch Französisches. Dort lebt der revolutionäre Mythos weiter, und die Straße ist ein Hauptschauplatz des politischen Kampfes. ... Der verständliche Überdruss angesichts eines schier endlosen Krieges und das durch die Inflation verursachte Leid in weiten Teilen der Bevölkerung könnte mehr soziale Konflikte in Europa auslösen. Frankreich ist eine Warnung.“
Allgemeine Revolte nicht ausgeschlossen
Jean-Luc Mélenchon, Chef der Linkspartei La France Insoumise, wittert Morgenluft, warnt La Libre Belgique:
„Politisch hat Emmanuel Macron zwar nichts von Jean-Luc Mélenchon, der sich auf einem absteigenden Ast befindet, zu befürchten, er steht jedoch vor keiner leichten Herausforderung. Das Durchboxen des Haushalts in der Nationalversammlung kann unvorhersehbare Folgen haben. Im derzeitigen Krisenkontext dürfen der Unmut der Autofahrer und die Wut der Streikenden nicht in eine allgemeine Revolte umschlagen. Das Risiko ist real angesichts der Zutaten, die den sozialen Protest nähren. So würde der Traum Mélenchons verwirklicht.“