Cherson: Wie geht es weiter nach Russlands Rückzug?
Nach acht Monaten Besatzung haben sich Russlands Truppen aus der Regionalhauptstadt Cherson über den Fluss Dnipro zurückgezogen. Am Wochenende übernahm das ukrainische Militär die Kontrolle über die Stadt. Nun gilt es, Minen zu entschärfen und die Strom- und Wasserversorgung wieder in Gang zu bringen. Europas Presse fragt sich, was die Rückeroberung für den Verlauf des Krieges bedeutet.
Reserven freigesetzt und die Krim im Visier
Nowaja Gaseta Ewropa hebt die militärischen Vorteile der Rückeroberung für Kyjiw hervor:
„Die Wahrscheinlichkeit, dass russische Truppen es riskieren, den Dnjepr zu queren und erneut aufs rechte Ufer vorzudringen, ist praktisch gleich Null. Infolgedessen wird die Ukraine in der Lage sein, den Großteil der auf dem rechten Ufer und in dessen Nähe konzentrierten Truppen an andere Frontabschnitte zu verlegen. Damit sind faktisch 14 vollständige Brigaden zur operativen Reserve der Armee geworden. ... Auch das Zielgebiet der weitreichenden ukrainischen Artillerie hat sich in der Südukraine erheblich ausgeweitet und reicht nun bis zu den Zugängen zur Krim.“
Putin hat nichts zu befürchten
Auch nach der Niederlage sitzt Russlands Führung fest im Sattel, meint Kolumnist Witali Portnikow auf NV:
„Als man Liman verloren hatte, gab es Proteste. Forderungen nach einer Degradierung von General Lapin wurden laut. Jetzt, da General Surowikin die Entscheidung getroffen hat, dass Russland Cherson verlassen soll und wir somit Cherson kontrollieren, ist man einhellig 'dafür', alle sind glücklich darüber. Und alle sagen, was für ein Held General Surowikin doch sei. ... Wir sehen also, dass das Kreml-Regime politisch nicht existentiell bedroht ist. ... Was die sogenannten Kriegsberichterstatter in den großen kremlfreundlichen Kanälen über einen Verrat schreiben, ist in einem totalitären Land irrelevant. ... Entscheidend ist allein die Effizienz des Sicherheitsapparats.“
Kriegsende nicht absehbar
Die Befreiung Chersons ist noch nicht die Befreiung der ganzen Ukraine, meint Echo24 und warnt vor zu großer Euphorie:
„Die Ukraine gibt das Ziel, ihr gesamtes Territorium zu befreien, nicht auf. Trotz der Erfolge ist dies kein Ziel, das über Nacht erreicht werden kann. Der Weg zur Vertreibung Russlands ist noch lang und blutig. ... Cherson ist ein bedeutender Sieg, aber er ändert nichts an der Gesamtstrategie. Es zeigt jedoch, dass die Vertreibung Russlands aus der Ukraine nicht nur ein verrückter Traum, sondern eine reale Möglichkeit ist. Um dies zu erreichen, darf die Ukraine die Hilfe des Westens nicht verlieren.“
Putin hat noch Draht zur Realität
Dass Moskau in diesem Fall nicht auf sinnloses Sterben gesetzt hat, macht der Neue Zürcher Zeitung etwas Hoffnung:
„Putin stand vor der Wahl, ein Militärkontingent von schätzungsweise 20.000 Mann für einen aussichtslosen Abwehrkampf zu opfern, um so den Moment einer weiteren Schmach hinauszuschieben oder einen raschen Schlussstrich unter die verlustreichen Kämpfe um Cherson zu ziehen. Die zweite Option ist eindeutig die militärisch vernünftigere. … Dass Putin diese bittere Realität akzeptiert, ist ein Beleg dafür, dass er für rationale Argumente weiterhin empfänglich ist.“
Kyjiw sollte sich Zeit lassen
Die Ukrainer müssen nun mehr als vorsichtig sein, warnt die Süddeutsche Zeitung:
„Wenn die Verantwortlichen in Kiew ihre Soldaten zu schnell vorrücken lassen in das angeblich verlassene Cherson, könnten die Truppen zu Opfern eines gut vorbereiteten Hinterhalts werden. Die Russen werden Cherson mit Minen und Sprengfallen gespickt haben. Möglicherweise halten sich sogar noch Tausende russische Soldaten in der Stadt auf, getarnt als Zivilisten. Zudem wäre eine Stadt voller Truppen ein Ziel für die russischen Geschütze und Raketenwerfer auf der anderen Flussseite. Präsident Selenskyj und seine Generale wären dann voll verantwortlich für das Schicksal der Zivilisten in der Stadt. Sie sollten sich daher lieber etwas Zeit lassen mit ihrer Entscheidung über Cherson.“
Ukraine ist taktisch überlegen
Der Rückzug wird weitere Zweifel an der Kompetenz der russischen Armee aufwerfen, meint Adevărul:
„Die ukrainische Armee weiß, dass die Zeit gegen die Russen arbeitet, deshalb hat sie es nicht eilig, Cherson anzugreifen. … Die ukrainische Armee wartet darauf, dass der Frost einsetzt, damit sie vorrücken kann, aber nicht mit zig Kilometern von Panzerkolonnen, wie es die Russen taten, die sich sicher der Gefahr aussetzen, durch Angriff blockiert zu werden. Der Verlust Chersons, der einzigen ukrainischen Regionalhauptstadt, die von den Russen erobert worden ist, wird die Frage nach dem Sinn dieses Krieges und nach der Inkompetenz der 'berühmten' russischen Armee aufwerfen.“
Kreml kann alles als Erfolg verkaufen
Warum der Abzug aus Cherson den russischen Präsidenten innenpolitisch nicht schwächen wird, erklärt Financial Times:
„In den Augen unzufriedener Russen ist jede Form von Widerstand gegen den Westen ein Erfolg, fast unabhängig vom Endergebnis. Selbst bei einem Rückzug werden sie sich mit dem Gedanken trösten, eine 'weitere Versklavung' Russlands verhindert zu haben. Deshalb bedeuten militärische Rückschläge nicht zwangsläufig eine innenpolitische Schwächung Putins. Es ist für den Präsidenten ebenso schwierig, diesen Krieg zu verlieren wie ihn zu gewinnen. Innenpolitisch ist die Invasion selbst eine Art Sieg. Und die passive Mehrheit kann davon überzeugt werden, dass jedes Ergebnis das bestmögliche ist.“
Ein weiterer Schlüsselpunkt des Krieges
Der Abzug ist eine empfindliche Niederlage für Russland, betont Deník N:
„Mit 300.000-Einwohnern vor dem Krieg war Cherson das größte regionale Zentrum, das die Russen seit Beginn der diesjährigen Aggression in der Ukraine besetzt hatten - und jetzt müssen sie es räumen. ... Die Stellung Chersons ist vor allem symbolisch sehr wichtig, die Russen verlieren damit die einzige Stadt am rechten, westlichen Ufer des Dnipro. Und der ist nunmal die wichtigste Wasserstraße des Landes. ... Die Befreiung von Cherson ist daher ein weiterer Schlüsselpunkt des Krieges.“
Waffenstillstand nicht mehr ausgeschlossen
La Repubblica schöpft leise Hoffnung auf Verhandlungen:
„Es ist ein Wendepunkt. Niemand glaubt, dass die Voraussetzungen für den Frieden bestehen: Die Ukraine wird ihn nicht akzeptieren, solange die besetzten Gebiete nicht vollständig befreit sind. Seit gestern sind jedoch die Voraussetzungen für die Aufnahme von Gesprächen über einen Waffenstillstand gegeben, der dem Gemetzel ein Ende setzen würde. ... Ein Waffenstillstand, der durch das breite Wasser des Dnipro geschützt wäre. Es gibt aber noch viele Unklarheiten. ... Die Kommunikation [auf russicher Seite] übernahm allein die militärische Führung. ... Die Reaktion der Regierung Selenskyj ist von Vorsicht und Misstrauen geprägt.“
Kluger Schachzug Moskaus
Der Schritt sollte nicht überbewertet werden, erklärt The Spectator:
„Das ist eine militärische Niederlage, aber nicht unbedingt eine entscheidende. Viel wird davon abhängen, inwieweit den Russen ein geordneter Rückzug statt einer überstürzten Flucht gelingt. Man kann davon ausgehen, dass sie dies durchgeplant und Material- sowie Munitionsvorräte zurückgezogen haben, die sie den Ukrainern nicht überlassen wollen. Vielleicht werden sie zur Deckung des Rückzugs mehr ihrer Kampfflugzeuge einsetzen, die sie eher ungern in Gefahr bringen. … Wenn es funktioniert, geben die Russen zwar die einzige größere Stadt auf, die sie bei dieser Invasion bisher eingenommen haben. Doch sie erhalten die Chance, sich entlang einer besser zu verteidigenden Linie entlang des Dnipro zu konsolidieren.“
Besser schnell weiter abrücken
Wirtschaftsprofessor Konstantin Sonin sieht auf Facebook einen Schritt in die richtige Richtung:
„Entscheidend für Russland wäre jetzt, den Truppenabzug aus der gesamten Ukraine fortzusetzen. Sobald die Truppen aus den neu besetzten Gebieten abgezogen sind, wird Selenskyj meiner Meinung nach Verhandlungen zustimmen. Es wird ein Einfaches sein, umfangreichen Schadenersatzzahlungen zuzustimmen, denn die 300 Milliarden Dollar [Devisenreserven im Ausland], die nach Kriegsbeginn blockiert wurden, sind für Russland sowieso verloren. Die Folgen des Krieges werden noch jahrzehntelang auszubaden sein, aber zumindest könnte der Wiederaufbau des Landes und der Wirtschaft früher beginnen. Später wird es nur noch schwieriger.“
Zerfallserscheinungen nicht zu übersehen
Niederlagen befördern in Russland innere Streitigkeiten, schreibt Club Z:
„Diesmal scheint der Zerfallsprozess unter dem Druck der Verluste in der Ukraine von den Streitkräften Russlands auszugehen. ... Die Beziehung zwischen den acht Armeen Putins (die reguläre Armee unter Surowikin, die Privatarmee Wagner, mindestens eine weitere Privatarmee, Kadyrows tschetschenische Schläger, die 'Armeen' der 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk, die Nationalgarden Nazgvardia und Rosgvardia) wird zunehmend komplexer und feindseliger. ... Die Burjaten in der regulären Armee hatten schon mehrere Zusammenstöße mit Kadyrows Tschetschenen. Spannungen sind auch innerhalb von Surowikins Streitkräften sichtbar – sowohl zwischen Söldnern und Wehrpflichtigen als auch zwischen ethnischen und religiösen Gruppen.“
Verstärkung aus Afghanistan wird auch nicht helfen
Egal wie viele Soldaten Putin in den Ukraine-Krieg schickt, es reicht einfach nicht für einen Sieg, beobachtet Karar:
„Er mobilisierte Kadyrows Männer, erhielt Unterstützung von Assads Armee, holte Gefangene aus den Gefängnissen und trieb sie an die Front, aber es brachte einfach nichts. Auch die von ihm angekündigte Teilmobilmachung brachte keine Besserung. Die Lösung? Afghanische Kommandos auf der Flucht vor den Taliban! Es ist wie ein Scherz. ... Wird diese Armee von Inkompetenten, die von den USA mit Milliarden von Dollar ausgebildet wurden, aber den Taliban nicht einmal drei Wochen standhielten, sondern von der Front flohen, nun das Spiel verändern?“