Urteil gegen İmamoğlu: Jetzt erst recht?
Zehntausende Menschen haben in Istanbul gegen die Verurteilung ihres Bürgermeisters protestiert. Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CHP war am Mittwoch in erster Instanz zu zweieinhalb Jahren Haft wegen vermeintlicher Beleidigung der Wahlkommission verurteilt worden. Auch wenn die Opposition auf der Straße nun geeint ist, steht ihr eine schwierige Entscheidung bevor, prophezeien Kommentatoren.
Opposition in der Zwickmühle
Das Sechs-Parteien-Bündnis, das sich gegen Erdoğan zusammengetan hat, steht nun vor einer schwierigen Wahl, konstatiert die Süddeutsche Zeitung:
„[D]ie ohnehin schwierige Frage, mit welchem Spitzenkandidaten es in die Wahlen geht, [ist] noch einmal komplexer geworden. Mit dem Istanbuler Bürgermeister, der nach dem als ungerecht empfundenen Urteil einerseits mehr Zulauf denn je erfährt, der andererseits aber nach einem - beschleunigten - Berufungsverfahren qua Politikverbot endgültig aus dem Rennen zu fliegen droht? Oder mit einem anderen Kandidaten, der weniger beliebt ist und mithin geringere Chancen hat? Diese Frage hat das Potenzial, die Geschlossenheit des Bündnisses zu schwächen. Zum Vorteil Erdoğans.“
Sofort nominieren!
Das Gericht könnte der Opposition die Entscheidung abgenommen haben, wer Präsidentschaftskandidat wird, meint Sözcü:
„Diese von der Regierung mit Hilfe der politisierten Justiz getroffene Entscheidung, Imamoğlu von der politischen Bühne zu entfernen, ist auch ein Eingeständnis, dass Imamoğlu der Kandidat ist, den Tayyip Erdoğan im Präsidentschaftsrennen am meisten fürchtet. ... In diesem Fall sollte die Opposition aus sechs Parteien - ohne das Berufungsgericht und den Kassationsgerichtshof abzuwarten, - Ekrem İmamoğlu unverzüglich zum Präsidentschaftskandidaten erklären. Über den Rest soll sich dann die Regierung den Kopf zerbrechen!“
Das ist eine Falle!
Imamoğlu jetzt zum Kandidaten zu küren, wäre der falsche Weg, findet hingegen die kemalistische Tageszeitung Cumhuriyet:
„Wenn dies geschieht, kann das Verfahren, das zu Imamoğlus politischem Verbot führt, innerhalb von sechs Monaten, kurz vor der Wahl, abgeschlossen werden und seine Kandidatur somit blockiert werden. Außerdem würde die Stadtverwaltung von Istanbul wieder an die AKP gehen. ... Das ist eine Falle! Was die sechs Oppositionsparteien tun sollten, ist, sich sofort auf einen einzigen Kandidaten zu einigen, die Diskussion zu beenden und sich um ihn versammeln. Das wäre der klügste Weg.“
Den Alleinherrscher abwählen
Das Skandal-Urteil sollte die Wähler der Opposition mobilisieren, findet Kolumnist Hasan Cemal auf T24:
„Das ist nicht nur ein Schlag gegen die Justiz, sondern auch gegen den Willen und die Stimme des Volkes. ... Es hat sich erneut gezeigt, dass das türkische Justizsystem zu einer Institution der Gefolgschaft gemacht wurde. Mit anderen Worten, die Justiz liegt in der Hand des 'einen Mannes', des Palastes. ... Ein Sturm der Aufregung beginnt in mir zu wehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich wieder Hoffnung. Ja, wir werden nicht aufgeben, ja, wir werden Widerstand leisten für Demokratie, Recht und Freiheit, und wir werden diesen einen Mann mit den Stimmen des Volkes an der Wahlurne nach Hause schicken.“
Auch Erdoğan gefällt dieses Urteil sicher nicht
Die Entscheidung ist nicht im Sinne der Demokratie, findet auch Kolumnist Abdulkadir Selvi in der regierungsnahen Hürriyet:
„Ich bin der Meinung, dass Politik auf Wahlveranstaltungen und an der Urne gestaltet werden sollte, nicht durch politische Verbote, die von Gerichten verhängt werden. ... Den Preis dafür wird nicht nur Ekrem İmamoğlu bezahlen, sondern auch unsere Demokratie und die Politik. ... Ich denke, dass auch Präsident Erdoğan mit diesem Urteil unzufrieden ist. Was geht hier vor sich? Was versucht hier jemand durch die Justiz zu arrangieren? Man sollte nicht vergessen, dass dieses Land von Erdoğan geleitet wird, der in der Vergangenheit wegen des Lesens eines Gedichtes ins Gefängnis geworfen und mit Politikverbot bestraft wurde.“
Der Schuss könnte nach hinten losgehen
Sollte sich das Berufungsverfahren bis nach den Wahlen hinziehen, könnte der Vorfall İmamoğlu sogar stärken, spekuliert Corriere della Sera:
„Genau wie im Jahr 2019, als die Bürgermeisterwahlen in der Millionenstadt annulliert wurden, was İmamoğlu Monate später einen haushohen Sieg bescherte. In den nächsten Tagen wird ein Berufungsverfahren eingeleitet, das die Aussetzung des Urteils zur Folge hat, sodass der Bürgermeister bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts im Amt bleiben kann. … Gestern erhielt er die Solidarität aller Parteien, die gegen Erdoğan sind, und auch der frühere Staatspräsident, Abdullah Gül, Mitgründer der AKP, der sich von Erdoğan distanziert hat, hat das Urteil kritisiert.“
Das Vorbild ist Putin
Liberal befürchtet, dass sich die türkische Regierung nicht nur bei der Einschüchterung der Opposition am Kreml orientieren könnte:
„Erdoğan, der jetzt sogar Athen droht, 'säubert' die Opposition in seinem Land - wie es zuvor Putin getan hat -, um seine Wiederwahl zu sichern. ... Wir befürchten, dass die überwiegende Mehrheit unserer Mitbürger zwar sieht, dass Erdoğan nicht zögern wird, alles zu tun, um die Wahlen zu gewinnen, aber nicht an die Gefahr eines Angriffs auf unser Land denkt.“