Wie den Menschen in der Erdbeben-Region helfen?
Nach den Erdbeben im Südosten der Türkei und im Nordwesten von Syrien steigt die Zahl der Opfer rasant an. Am Mittwochmorgen waren mindestens 9.000 Tote geborgen worden. Tausende Menschen kämpfen unter Trümmern eingeschlossen oder schutzlos der eisigen Kälte ausgesetzt ums Überleben. Was passieren muss, damit die internationale Hilfe möglichst schnell möglichst viele Menschen rettet, beschäftigt Europas Presse.
Doppelte Not in Syrien
Viele Menschen in Syrien mussten schon wegen des Bürgerkriegs viel erleiden, erinnert 24 Chasa:
„Sie hatten aber wenigstens Unterkünfte oder lebten in Flüchtlingslagern. Jetzt sehen wir die eingestürzten Überreste der Gebäude, in denen die Menschen nach jahrelangen Kämpfen leben mussten. Jetzt sind diese Menschen unter den Ruinen der vorherigen Ruinen. Was der Krieg nicht zerstört hat, zerstören jetzt die Naturgewalten. ... Diese Menschen wurden immer wieder auf die Probe gestellt durch Beschüsse, Bombenangriffe der syrischen und russischen Luftwaffe auf Krankenhäuser und Kindergärten. Sie lebten bereits unter entwürdigenden Bedingungen. Und jetzt wird all das verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht.“
Lebensrettende Flugzeuge nur auf der einen Seite
Den ungleichen Zugang zu Hilfsgütern beschreibt La Stampa mit einem anschaulichen Bild:
„Der Südosten der Türkei ist ein Rechteck, das - auf Flugkarten - mit kleinen gelben Flugzeugen übersät ist. Sie sind das Leben. Hilfsgüter, Medikamente, Lebensmittel, Fahrzeuge und Hilfsdienste aus der ganzen Welt treffen ein. Ein Stück weiter unten befindet sich ein großes graues Dreieck: Syrien. Wo nichts ankommt. ... Doch die Verwüstung durch das Erdbeben schlug mit gleicher Wucht auf der einen als auch auf der anderen Seite der Grenze ein. Und auf beiden Seiten leben die gleichen Menschen.“
Selbst die Beben brechen Assads Zynismus nicht
De Standaard kritisiert, dass die Machthaber in der syrischen Hauptstadt die Landesgrenzen nicht uneingeschränkt für internationale Hilfstransporte öffnen:
„Das syrische Regime machte am Montagabend bereits deutlich, dass die Grenzen nicht einfach so für Hilfslieferungen geöffnet werden. ... Damit zeigt das Regime in Damaskus, dass die Hilfe für das Gebiet der Opposition auch eine Angelegenheit von zynischer Politik bleibt. Das Assad-Regime will seit Jahren schon, dass alle humanitäre Hilfe über Damaskus läuft. So kann es selbst einen Teil der Hilfe 'abschöpfen' und über die Verwendung der Hilfsgüter selbst bestimmen.“
Zusammenarbeit hat jetzt Vorrang
Politische Konflikte müssen angesichts der Katastrophe in den Hintergrund rücken, mahnt The Irish Times:
„Damaskus steht in der Verantwortung, Feindschaften ruhen zu lassen und seinen leidenden Bürgern internationale Hilfe zu ermöglichen. ... Die internationale Reaktion war bislang vereint und erfolgte zügig - die Türkei hat die Hilfsangebote aus 70 Ländern und von internationalen Organisationen begrüßt. .. Man kann nur hoffen, dass sie und Teams beispielsweise aus dem Iran, China und den Vereinigten Arabischen Emiraten Wege finden, angesichts dieser humanitären Tragödie zusammenzuarbeiten. Das Ausmaß dieser Katastrophe verlangt es, dass man der Politik nicht erlaubt, die Rettungsmaßnahmen zu behindern.“
Prävention könnte wirklich helfen
Viele lebensrettende Maßnahmen müssten vor allem in Hinblick auf künftige Erdbeben durchgesetzt werden, mahnt T24:
„Nach jedem Erdbeben das gleiche Bild, die gleichen Statements. Es wurden keine Schritte unternommen, um den Verlust von Leben und Eigentum bei Erdbeben zu minimieren. Die Mahnungen und Studien von Wissenschaftlern treffen auf taube Ohren. Bis die Katastrophe kommt. ... Dabei sollte in einem Erdbebenland wie der Türkei der Satz 'Risikostädte sollen auf Erdbeben vorbereitet werden' eine Priorität in den Programmen aller Regierungen sein, unabhängig von ihren politischen Ansichten.“
Schlecht und am falschen Ort gebaut
Das Ausmaß von Naturkatastrophen hängt vom Menschen ab, mahnt der Geologe Mario Tozzi in La Stampa:
„Die Zivilisationen der Sapiens existieren nur dank eines vorübergehenden geologischen Konsenses, der ohne Vorwarnung wieder aufgehoben werden kann. ... Aber wir leben nach wie vor in gefährlichen Regionen im gesamten Mittelmeerraum, ohne dies zu beachten. Das Symbolbild dieses Erdbebens ist das von zehnstöckigen Gebäuden, die zu einem Haufen Schutt zusammengefallen sind - wie ist das möglich? Man möge sich entsinnen, dass nicht Erdbeben tödlich sind, sondern schlecht gebaute Häuser, und in dieser Hinsicht ist die Türkei (und auch Syrien) Italien sehr ähnlich.“
Die Profitsucht ist schuld
Cumhuriyet erkennt ein tödliches System:
„Politik dient nicht dem Bürger, sondern der Bereicherung. Stadtplünderung und Bodenspekulation sind die schnellsten und effektivsten Mittel zur Bereicherung. Nationale und lokale Politiker plündern Städte und Bauland. Die Baufirmen verwenden marodes und schlechtes Material. Die politisch Verantwortlichen führen keine Inspektionen durch. Das Volk ist ungebildet. Die Moral ist verdorben. Jeder ist nur noch auf das schnelle Geld aus. ... Zusammengefasst: Nicht Erdbeben sind tödlich, eigentlich auch nicht die Gebäude. Es sind 'primitive Menschen', 'primitive Politiker' und 'primitive Bauunternehmer', die hinter dem Gebäude stehen, das dann wie der Mörder aussieht.“
Solidarität ohne politische Couleur
Das Ausmaß der Zerstörungen ist so groß, dass laut Evrensel alle helfen müssen:
„Unterstützung jeglicher Art darf jetzt nicht verhindert werden. Wir sagen 'nicht verhindert', weil wir genau das beim Elazığ-Erdbeben 2020 gesehen haben. ... Allen ist noch gut in Erinnerung, dass mit unhaltbaren Vorwänden versucht wurde, Hilfsmaßnahmen der [oppositionellen] CHP- und HDP-Gemeinden zu verhindern - vom Betrieb von Baumaschinen bis zur Verteilung von Brot. Doch jetzt ist die Zeit, sich mit den Erdbebenopfern zu solidarisieren, mit Lebensmitteln, Getränken, Heizmaterial, Unterkünften, Hygieneartikeln, mit allem, was man zum Leben braucht, unabhängig davon, was in der Vergangenheit vorgefallen ist!“
Nur ein kurzer Moment der Hoffnung
Le Quotidien beurteilt die grenzüberschreitende Hilfsbereitschaft:
„Wie ist diese Welle der Solidarität zwischen Erzfeinden zu interpretieren? … Warum ruft eine 'einfache' Naturkatastrophe eine so einhellige Reaktion hervor, ungeachtet der Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Ländern und Blöcken? Sollte man daraus schließen, dass sich die Menschheit nicht völlig in dem heute fast vergessenen blutigen Krieg in Syrien, gefolgt von dem Krieg in der Ukraine, verloren hat? … In Wirklichkeit war es nur ein sehr schwacher Hoffnungsschimmer, der in den Stunden nach dem verheerenden Erdbeben aufleuchtete. … Schon bald werden sich die Augen wieder von den Dramen auf beiden Seiten der Grenze abwenden.“
Krisenmanagement könnte die Wahlen entscheiden
Mögliche politische Folgen der Katastrophe erklärt der Türkei-Korrespondent der taz, Jürgen Gottschlich:
„Schafft Erdoğan es nun, eine überzeugende Katastrophenhilfe auf die Beine zu stellen, könnte er damit seine Wiederwahl sichern. In Deutschland erinnert man sich an den damaligen Kanzler Gerhard Schröder, dem sein Einsatz gegen das Hochwasser an der Elbe die überraschende Wiederwahl bescherte. ... Versinkt die Region im Südosten der Türkei, die durch Krieg und ethnische Konflikte sowieso als Krisenherd gilt, nun weiter im Chaos, wird wohl die Opposition davon profitieren. Dennoch kann man im Sinne der Betroffenen nur hoffen, dass das Krisenmanagement gelingt.“