Putins Rede an die Nation: Im Osten nichts Neues?
In seiner Rede zur Lage der Nation hat Wladimir Putin am Dienstag dem Westen erneut die Schuld am fortdauernden Ukraine-Krieg gegeben. Da dieser Russlands Friedensbemühungen systematisch hintergangen habe, werde man die Offensive in der Ukraine fortsetzen. Es sei unmöglich, Russland militärisch oder wirtschaftlich in die Knie zu zwingen.
Brücken zum Kulturkreis Europa verbrannt
Putin hat alle Beziehungen zu Europa abgebrochen, analysiert Jutarnji list:
„Er hat den Vorhang Richtung Europa fallen gelassen, Russland von europäischen Werten isoliert. Er zeigte Angst, Frustration und einen Komplex gegenüber Europas Kultur und Gesellschaft, die Russen und Russland mit ihren Beiträgen bereichert und ergänzt haben. Putin hat alle Brücken verbrannt und Russland in einen Outlaw verwandelt, der sich von seinen eigenen identitären Wurzeln lossagt. ... Putin hat den Russen die Nachricht vermittelt: Gebt Europa auf, dort gibt es nichts für euch außer Dekadenz, Zerstörung und Untergang. Und er nannte Russen, die in den Westen gingen, Verräter und 'europäische Lakaien'.“
Den Tod zur Ideologie gemacht
Die Rede zeugt von Putins Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, kommentiert die Moskau-Korrespondentin Inna Hartwich im Tageblatt:
„Es ist der Kampf eines Besessenen. Eines, der seine Hand nicht zum Frieden reicht, sondern seine 'Wahrheit' im 'Sieg' gegen den Westen sieht. Dafür baut er sein Land um, alles im Namen des Krieges. ... Es sind krude Überzeugungen, an die Millionen von Russinnen und Russen glauben und für die Millionen russischer Männer Tod und Verderben in ein fremdes Land bringen. ... Der Kreml hat den Tod fürs Vaterland zur Ideologie gemacht. Er wird sich nicht lösen davon. Putins Rede ist eine Bestätigung für einen langen Krieg.“
Plumpe Propaganda
Putin bedient sich erneut wohlfeiler Feindbilder, um seine miserable Lage zu verschleiern, analysiert La Croix:
„Putin verstrickt sich wieder einmal in die wahnhaften Obsessionen, die ihm als Vorwand für den Kriegsbeginn dienten: die 'neonazistische' Ukraine, der 'dekadente' Westen oder die 'zur Norm' gewordene Pädophilie in Europa. … Er präsentiert sich als Verfechter herbeifantasierter traditioneller Werte. … Zwar gibt es tatsächlich einen zivilisatorischen Hintergrund im russisch-ukrainischen Konflikt, doch die Frontlinie verläuft nicht zwischen Progressivität und Konservatismus, sondern zwischen Demokratien und autoritären Regimen. Alles andere ist plumpe Propaganda. Sie ist ein bequemes Mittel, um die Strategielosigkeit [Putins] zu verschleiern.“
Russland entputinisieren
Der Diplomat Konstantin Jelissejew warnt in NV davor, Putins Worten zu glauben, es liege am Westen, Frieden mit Russland zu schließen:
„Diese These dürfte viele 'nützliche Idioten' auf den Plan rufen, die die Idee eines sogenannten Waffenstillstands und die Alternativlosigkeit von Friedensgesprächen mit Russland propagieren werden. Eine taktische Pause ist für Moskau wichtig, um Kräfte für die Fortsetzung des Kriegs zu sammeln. ... Putin hat erneut bewiesen, dass die Erwartungen einiger westlicher Führer, dass ein gerechter Frieden mit seinem Regime erreicht werden kann, unbegründet sind und daher der beste Weg zum Frieden eine Niederlage Russlands, eine Entputinisierung ist und man das Regime auf internationaler Ebene zur Verantwortung ziehen muss.“
Gemeinsam dagegenhalten
Für Le Soir verdeutlicht die Rede nur, wie wichtig und richtig die kompromisslose Unterstützung Kyjiws ist:
„Der einzig positive Aspekt dieser abscheulichen und erbitterten Rede ist, dass sie die starke Verbindung zwischen dem Westen und der Ukraine im Kampf gegen Putin und seine Handlanger bestätigt und bekräftigt.“
Kalter Kaffee
Putin sagte eigentlich nichts Neues, stellt Jutarnji list fest:
„Tagelang wurde in der russischen Öffentlichkeit Spannung und eine dramatische Atmosphäre geschaffen und die Rede als 'historisch' bezeichnet, wie ein päpstliches urbi et orbi. 'Der Präsident wird sich nicht nur an die Russen wenden, sondern an die ganze Welt', kündigte die Agentur Ria Nowosti an. ... Doch obwohl die Rede fast zwei Stunden dauerte, sagte Putin im Prinzip nichts Neues oder Unerwartetes. Er war wie erwartet streng und scharf dem Westen gegenüber, dem Haupt- und Erzfeind Russlands.“
Krieg als neue Normalität
Mit seinem Auftritt hat Putin die Lage seines Landes zum neuen Normalzustand erklärt, schreibt der freie Russlandkorrespondent Maxim Kireev auf Zeit Online:
„Längst ist der Krieg zu einem Grundtenor des modernen Russlands geworden. In der Vorstellung des Präsidenten, das macht seine Rede deutlich, kann dies auch fast beliebig lange so bleiben. In diesem Weltbild bedarf es keiner außerordentlichen nationalen Anstrengung, um den Krieg schnellstmöglich zu beenden. ... Putin versprach neue Arbeitsplätze, bessere Bildung und Aufstiegschancen. Passend dazu rief er die Superreichen des Landes auf, im Inland zu investieren ... . Diese neue Normalität kann in der Traumwelt Putins auch ohne den zusehends unerreichbaren Sieg in der Ukraine gelebt werden.“
Kein Dialog in Sicht
Corriere della Sera ist bedrückt:
„Was sich gestern, am 21. Februar 2023, im Dreieck Kyjiw-Warschau-Moskau, dem neuen Epizentrum der europäischen Schicksale, ereignete, gehört sicherlich zu dem, was Stefan Zweig schicksalsträchtige 'Sternstunden' nannte. ... Zum ersten Mal seit dem Fall der Berliner Mauer hat sich zwischen den beiden Lagern, in die der barbarische russische Angriffskrieg gegen die Ukraine den Kontinent einmal mehr gespalten hat, eine unüberbrückbare Gegensätzlichkeit verfestigt. Die demokratischen Länder unter US-Führung, die für die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Volkes kämpfen. Und das neoimperiale Russland, dessen Autokrat zu einem langen, existenziell gewordenen Konflikt aufruft, jeden verbliebenen Kommunikationskanal schließt und die Zugbrücke gegen jeden Einfluss des feindlichen und degenerierten Westens hochzieht.“