Hat Deutschland die Zeitenwende geschafft?
"Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor." Das sagte Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts des Krieges gegen die Ukraine vor einem Jahr. Er weckte damit viele Erwartungen in Europa: Würde Deutschland seine große militärische Zurückhaltung und bisherige Russlandpolitik überwinden und sich als westliche Führungsmacht neu positionieren? Kommentatoren sind nach wie vor skeptisch.
Messlatte hoch gelegt
Der Kanzler wird sich anstrengen müssen, die von ihm geschaffenen Erwartungen auch zu erfüllen, meint Le Monde:
„Abgesehen von den finanziellen Herausforderungen stellen sich wichtige Fragen: Wie weit will Deutschland bei der Neuausrichtung seiner Außenpolitik gehen? Welche Rolle strebt es innerhalb der Nato an, insbesondere bei der Verteidigung der Ostflanke? Wie sieht Deutschlands Vision für die europäische Verteidigungspolitik aus? Was den letzten Aspekt betrifft, wird ohne eine perfekte Abstimmung mit Frankreich nichts gehen. Die letzten Monate haben jedoch gezeigt, dass es zwischen Paris und Berlin einiges gegenseitiges Unverständnis gibt. ... Der deutsche Bundeskanzler hat die Messlatte sehr hoch gelegt. ... Es liegt nun an ihm, den Erwartungen auch gerecht zu werden.“
Scholz ließ Worten keine Taten folgen
Von der versprochenen Aufrüstung Deutschlands ist nichts zu bemerken, beklagt The Economist:
„Es gibt kaum Anzeichen für einen nachhaltigen Anstieg militärischer Aufträge oder Beschaffungen. Scholz' Rede versprach zudem, dass Deutschland 'von nun an Jahr für Jahr' mehr als zwei Prozent seines BIP für die Verteidigung ausgeben werde - ein unverbindliches Ziel, das die Nato bereits 2006 festgelegt hatte, von Deutschland aber nie erreicht worden war. Trotz des Versprechens wurde das Ziel im Jahr 2022 verfehlt, denn es waren nur etwa 1,5 Prozent des BIP. Dieses Jahr wird das Ziel ebenfalls verfehlt werden und vermutlich auch im nächsten. ... Die Zeitenwende darf nicht der Wendepunkt sein, an dem Deutschland die Wende versäumt.“
Wende nur eingeleitet
Das Handelsblatt merkt an, dass Scholz nicht nur eine nationale Zeitenwende ausgerufen hat:
„'Die zentrale Frage lautet: Wie können wir als EU in einer zunehmend multipolaren Welt als unabhängige Akteure bestehen?', schrieb er in der Zeitschrift Foreign Affairs. Eine Antwort darauf lautet: Europa muss militärisch schlagkräftiger werden - und dafür braucht es die Führung seines größten Landes. ... Der Kanzler will seine Politik nicht an Worten, sondern an Taten messen lassen. Ein sehr begrüßenswerter Charakterzug für einen Politiker, Maulhelden gibt es in der Politik schließlich schon genug. Nach einem Jahr Zeitenwende lässt sich sagen: Scholz hat die Wende eingeleitet. Gewendet hat er das Land noch nicht.“