Tschetschenien: Journalistin und Anwalt verprügelt
In Tschetschenien sind die Journalistin Jelena Milaschina und der Anwalt Alexander Nemow von Unbekannten überfallen und zusammengeschlagen worden. Sie waren auf dem Weg zur Urteilsverkündung gegen Sarema Musajewa, die Anfang 2022 aus Nischny Nowgorod nach Grosny verschleppt worden war. Sie wurde zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Für Kommentatoren sind die Ereignisse auf mehreren Ebenen bezeichnend.
Kadyrows Methoden
Das Urteil gegen Sarema Musajewa, dessen Verkündung Jelena Milaschina und Alexander Nemow nun nicht hören konnten, kommentiert Avvenire:
„Es handelt sich dabei um ein politisches Urteil. Musajewa ist die Ehefrau von Saidi Jangulbajew, einem ehemaligen Richter des Obersten Gerichtshofs von Tschetschenien. Vor allem aber ist sie die Mutter von Abubakar Jangulbajew, einem Menschenrechtsaktivisten, und Ibragim Jangulbajew, Mitbegründer der Oppositionsbewegung Adat. Beide gelten als zwei der schärfsten Gegner des tschetschenischen Oberhaupts Ramsan Kadyrow. ... Eine Abrechnung, nach tschetschenischen Regeln, auf russischem Territorium, über die Kadyrow so wenig wie möglich wissen lassen wollte.“
Alles beim Alten
Vera Politkowskaja, die Tochter der 2006 ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja, konstatiert in La Repubblica:
„Wenn ich an meine eigenen Erfahrungen denke, bin ich leider sicher, dass am Ende niemand für dieses Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird. Trotz der überraschenden Reaktion der öffentlichen Meinung und der Putin-Journalisten, die im Anschluss an die Erklärungen von Beamten und Abgeordneten ihre Empörung zum Ausdruck brachten. Wenn wir allerdings versuchen, das Geschehen von oben zu betrachten, müssen wir ganz banal feststellen, dass heute ein weiterer 'normaler' Tag in Russland war. Jemand wurde verprügelt und verstümmelt, und eine weitere unschuldige Person landete aus rein politischen Gründen im Gefängnis. Das ist nichts Neues. ... Nichts hat sich geändert.“
Leichter Tadel für Tschetscheniens Machthaber
Journalist Maxim Trudoljubow nennt auf Facebook Gründe, warum der Übergriff von Moskauer Seite getadelt wird:
„Erstaunlicherweise haben die Behörden und sogar offizielle Menschenrechtsaktivisten Order erhalten, ihre Besorgnis über dieses Verbrechen zu äußern. Vielleicht zeigt sich so - wie schon früher geschehen - die Bereitschaft des Kremls, mit Hilfe von Journalisten und echten Menschenrechtlern Kadyrow ein bisschen mit dem Finger zu drohen. Denn dieser schien sich nicht darum zu reißen, sich mit Prigoschins Truppe anzulegen. Vielleicht war es aber auch die Erkenntnis, dass die Aufhebung aller Regeln letztlich Putins eigenes System trifft. Das wurde während des Wagner-Aufstands allzu deutlich.“
Gesetzlosigkeit führt zu Zerfall
Ex-Oligarch und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski sieht in einem von Echo übernommenen Telegram-Post Symptome für ein Staatsversagen Russlands:
„Putin hatte kein Problem damit, Grosny zu zerbomben, aber die Verantwortung für die Integration Tschetscheniens in den russischen Rechtsrahmen hat er nicht übernommen. ... Stattdessen beschloss er, die lokalen Banditen zu füttern, damit sie alles untereinander regeln und er sich um nichts kümmern muss. In der Folge breitete sich die von ihm geschaffene Banditen-Enklave im ganzen Land aus. Und was passiert mit einem Land, wenn die Gesetze nicht mehr eingehalten werden? Wenn dort von niemandem kontrollierte Kadyrow-Leute tun, was sie wollen? ... Dann kommt der unausweichliche Zerfall der Staatlichkeit. ... Ohne Putins Abgang ist er nicht aufzuhalten.“