Sotschi: Erst mal kein neuer Getreidedeal
Die Gespräche zwischen dem russischen Präsidenten Putin und seinem türkischen Kollegen Erdoğan über eine Wiederaufnahme des Abkommens zum Export von ukrainischem Getreide sind ohne Ergebnis beendet worden. Der Westen müsse zunächst die Sanktionen gegen den Handel mit russischen Agrarprodukten aufheben, erklärte Putin nach dem Treffen in Sotschi. Kommentatoren fragen sich, wie es jetzt weitergehen könnte.
Verhandlungen haben weiter Priorität
Iliya Kusa vom Ukrainian Institute for the Future sieht auf seiner Facebook-Seite drei Varianten einer Regelung der Frage des Getreideexports über die ukrainischen Schwarzmeerhäfen:
„1) Nachhaltiger Druck auf Russland. .... 2) Einigung auf einen Kompromiss. Dies bedeutet jedoch, dass die Parteien Zugeständnisse machen müssen. 3) Schaffung von alternativen Korridoren ohne Russland. Hier liegt das Problem jedoch in den Sicherheitsgarantien für solche Korridore und in der Frage, wer sie bereitstellen wird. Die Ukraine verfügt derzeit nicht über solche Ressourcen und die Türkei ist nicht bereit, eine solche Verantwortung zu übernehmen. ... Nach dem Treffen in Sotschi sieht es so aus, als würde das zweite Szenario greifen, das heißt Verhandlungen mit einem möglichen Kompromiss haben weiterhin Priorität.“
Kein Kompromiss beim Getreidedeal!
Erdoğan und Putin können keinen Deal gegen ukrainische Interessen durchdrücken, beobachtet der Ökonom Timothy Ash bei NV:
„Es ist interessant zu sehen, wie Erdoğan nach dem Treffen in Sotschi Putins Narrativ wiedergibt, man müsse Russland wieder Zugang zu Swift und Schiffsversicherungen geben, um den Getreidehandel im Schwarzen Meer wieder aufzunehmen zu können. Doch dazu wird es nicht kommen, da die Ukraine dies als Erpressung ansehen wird (und genau das ist es auch). ... Die Ukraine wird eine Einigung auf einen Getreidedeal nicht zulassen, wenn dieser mit einer Lockerung der Sanktionen verbunden ist.“
Ankaras Lavieren dürfte weitergehen
Die Realität hat allzu optimistische Hoffnungen eingeholt, reflektiert Diena:
„Dass die Haltung Moskaus gegenüber Ankara spürbar zurückhaltender geworden ist, war ebenfalls im Vorfeld bekannt, weshalb der Westen und vor allem die USA hofften, dass die Türkei möglicherweise auch gegenüber Russland zurückhaltender werden würde. Allerdings ist Russland für dieses Land, dessen Wirtschaft nicht in bester Verfassung ist, zu wichtig, als dass Erdoğan einen solchen Schritt unternehmen würde. Dementsprechend wird auch das für Russland günstige geopolitische Lavieren der Türkei weitergehen.“
Die Türkei hat auch ihre Interessen
Neatkarīgā analysiert die im Rahmen des Treffens von Erdogan und Putin behandelte Frage der Exporte russischen Gases über die Türkei:
„Am Weiterverkauf des russischen Gases will auch die Türkei etwas verdienen: Dutzende Milliarden Kubikmeter Gas sollen an andere Empfänger in Europa reexportiert werden. Bei einem kürzlichen Besuch in Budapest schlug der türkische Präsident Ungarn eine solche Lösung vor. Es ist bereits bekannt, dass das Gas über die Pipeline nach Serbien geliefert wird. Natürlich kann man sagen: Ist es nicht eine Schande, Gas aus einem Aggressorland zu kaufen? Die Antwort wird eine Gegenfrage sein: Wie lässt sich die Herkunft des nach Europa strömenden Gases bestimmen, kommt es aus Nigeria, Katar oder Russland?“
Der falsche Verhandlungspartner
Erdoğan hoffte auf einen Erfolg, der außer seiner Reichweite war, wirft La Repubblica ein:
„Dass ihm das nicht gelang, überraschte die russische Presse und die Kommentatoren nicht, denn sie betonten alle, dass er nicht derjenige sein konnte, der Putin das geben konnte, was dieser verlangte. Moskau besteht darauf, dass die Vereinten Nationen die Vereinbarung einhalten, die den Export von Agrarprodukten und Düngemitteln erleichtern soll, die Wiederherstellung des Zugangs zum Swift-Zahlungssystem für die russische Agrarbank Rosselchosbank vorsieht sowie die Wiederaufnahme der Ammoniaklieferungen über die in den letzten Monaten gesprengte Togliatti-Odessa-Pipeline. Die meisten dieser Forderungen können jedoch nur von westlichen Ländern erfüllt werden.“
Keine Aussicht auf Frieden
Hürriyet-Kolumnist Abdulkadir Selvi ist enttäuscht:
„Der Getreide-Korridor stand im Vordergrund. ... Staatspräsident Erdoğan sprach deutlich über den Getreidekorridor. ... Er sagte nicht, dass man erfolgreich war oder nicht, sondern dass eine Lösung Zeit brauche. Auf der Pressekonferenz wurde Erdoğan gefragt: 'Sind Sie mit einem Vorschlag für einen Waffenstillstand gekommen?' ... Darauf antwortete zuerst Putin. Er dankte Erdoğan für seine Vermittlungsbemühungen. Aber es waren keine starken Aussagen, die grünes Licht für einen kurzfristigen Waffenstillstand oder Gespräche mit der Ukraine gaben. Nachdem ich Putin beobachtet hatte, schwanden meine Hoffnungen auf einen Waffenstillstand oder baldigen Frieden. Dieser Krieg wird noch lange andauern.“
Zwei nur scheinbar starke Männer
Die Süddeutsche Zeitung analysiert, was die beiden Staatsführer gemeinsam haben:
„Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin eint vor allem, dass sie nur noch ihre eigenen Probleme verwalten, die sie selbst verursacht haben. In Putins Fall muss man die Katastrophe nicht weiter benennen, in die er die Ukraine und die Welt gestürzt hat. ... Erdoğan muss das Problem der fast vier Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei lösen, auch da steht er innenpolitisch unter Druck. Dafür wird er mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad reden müssen, den er seit Jahren meidet. Wofür er wiederum die Vermittlung aus Moskau braucht, von Wladimir Putin. Starke, schwache Männer unter sich.“