G20-Gipfel: Neue Weltmacht Indien?
Übers Wochenende findet in Neu Delhi der G20-Gipfel unter dem Motto "Eine Erde - eine Familie - eine Zukunft" statt. Putin und Xi haben ihre Teilnahme abgesagt und lassen sich vertreten. Indiens Premier Modi präsentiert sein Gastgeberland unterdessen stolz als "größte Demokratie der Welt" und betont, dass es China zudem als bevölkerungsreichstes Land abgelöst habe. Europas Presse beleuchtet Indiens Ambitionen.
Keine Stimme für die Ärmeren
Gazeta Wyborcza sieht das geschönte Spektakel als Widerspruch zum Anspruch Indiens, als Stimme des "globalen Südens" aufzutreten:
„Die Verschönerung der Hauptstadt ist seit Monaten im Gange. Die Welt soll sie aufgeräumt, blumenübersät und vor allem ohne Slums sehen. Deren Bewohner werden von der Polizei brutal auf die Straße geworfen, und Bautrupps reißen die schäbigen Häuser sofort ab. Die Regierung leugnet zwar, dass die 'Aufräumarbeiten' in den Slums mit dem Gipfeltreffen zusammenhängen, aber die westlichen Medien bemerken, dass Indien sich seiner großen sozialen Gegensätze und seiner Armut schämt und alles tut, um sie zu verbergen. Und dass Modi während des Gipfels im Namen des ärmeren Teils der Welt sprechen wird, während seine Polizei die Armen in Delhi brutal behandelt.“
Zwischen allen Bündnissen
Die Einordnung der indischen Außenpolitik ist schwierig, analysiert La Stampa:
„Modis Vision ist die eines Staates, der seine nationalen Interessen durchsetzt, ohne sich für eine Seite 'entscheiden' zu müssen. … Ein bündnisübergreifendes Land, das Mitglied der Brics, aber auch der Quad (zusammen mit den USA, Japan und Australien) ist; ein strategischer Rivale Pekings, der sich jedoch durch ein ausgeprägtes Anti-Westlertum auszeichnet; ein Unterstützer der territorialen Integrität der Ukraine, der jedoch nicht bereit ist, Moskau zu sanktionieren. Kurz gesagt, ein Indien, das die Tradition der blockfreien Staaten im Kalten Krieg wieder aufleben lässt, sie aber radikal neu interpretiert.“
China hat Vasallen, keine Verbündeten
Keine Grundlage für gemeinsame Strategien von China und Indien sieht Die Presse:
„Die Autokraten Xi und Modi verbindet außer antiwestlicher Ressentiments rein gar nichts, im Gegenteil: Die beiden asiatischen Atommächte, deren ungelöster Grenzkonflikt am Himalaja gerade erst wieder gefährlich aufgeflammt ist, sind erbitterte geopolitische Rivalen. ... Ein Bündnis der Autokraten kann kaum funktionieren, weil es in sich ein Widerspruch ist. Ethnischer Nationalismus ... ist ausgrenzend und exklusiv: Diese chauvinistischen Regimes sind getrieben von Paranoia und Verfolgungswahn, die in fremden oder kritischen Mächten eine existenzielle Gefährdung sehen. Sie verfolgen krankhaft Eigeninteressen und sind daher niemals zuverlässige Partner. ... China hat Vasallen, keine Verbündeten.“
Sicherheitsrat und G20 erweitern
Die Abgeordnete Anne Genetet von Macrons Renaissance-Partei fordert in Le Figaro:
„Frankreich und Indien sollten in den nächsten Tagen eine Reihe gemeinsamer Initiativen ergreifen, um die 'Global Governance' zu reformieren, damit sie repräsentativer und effektiver wird. Ich unterstütze den Vorschlag Indiens, die Afrikanische Union in die G20 aufzunehmen. … Angesichts der internationalen Lage und der Angriffe auf die westlichen Interessen und Werte muss dieser Beitritt so schnell wie möglich erfolgen. Der G20-Gipfel in Neu Delhi bietet sich dafür an. Im Anschluss daran könnten Frankreich und Indien ihren Vorschlag, den Sicherheitsrat um Indien, sowie Vertreter aus Afrika und Lateinamerika zu erweitern, in die Debatte der UN-Generalversammlung einbringen.“
Welcome to Bharat!
Bei offiziellen Einladungen für ein G20-Staatsbankett am Samstag wurde das Wort Indien durch das Wort Bharat aus dem Sanskrit ersetzt. Sašo Ornik sieht das auf seinem Blog Jinov Svet positiv:
„Vielleicht ist die Überlegung, den Namen des Landes zu ändern, ein Zeichen dafür, dass es sich um eine erwachsene Gesellschaft handelt, die auf eigenen Füßen stehen will. ... Natürlich stellt sich die Frage, ob Bharat ein passender Name ist, da er zu Kritik geführt hat. Die Regierungspartei BJP gilt als nationalistisch und steht dem islamischen Erbe eher feindlich gegenüber. ... Obwohl ich an Indien gewöhnt bin, fände ich es persönlich gut, wenn es eine Namensänderung gebe. Es geziemt einer Großmacht, selbst zu entscheiden, wie sie sich nennt, und nicht Gefangener der Kolonialzeit zu bleiben.“
Eine Farce ohne China und Russland
Dieser Gipfel ist reine Imagepflege für den Gastgeber, urteilt La Repubblica:
„Xi Jinping wird nicht nach Delhi kommen, ebenso wenig wie Wladimir Putin, damit er nicht verhaftet wird. So ist zu befürchten, dass diese globale 'große Familie', für die Modi wirbt, zum ersten Mal seit der Gründung des G20 im Jahr 1999 kein gemeinsames Kommuniqué vorlegen wird. ... Wird es also vor allem ein Sieg fürs Image sein, der der Welt von indischen Städten ohne Slums, ohne arme Menschen, ohne lästige Makaken, ohne streunende Hunde erzählt? ... Das Image zählt schließlich, und zwar sehr, vor allem für eine Regierung, die aus diesem Prestige im Jahr 2024 wichtige Wahlvorteile ziehen kann. Weniger für diejenigen, die im Zuge dieser teuren 'Verschönerungsaktion' vertrieben werden.“
Rivalität immer deutlicher
Xi Jinpings Fernbleiben interpretiert Le Monde als Botschaft an Indien:
„Es ist das erste Mal, dass Xi an einem G20-Gipfel fehlen wird. Peking hat keine Erklärung für diese Abwesenheit abgegeben. Soll damit ein Treffen mit Joe Biden, den er im November auf dem Gipfel der Pazifikstaaten in San Francisco treffen sollte, vermieden werden? ... Konzentriert sich Xi auf innenpolitische Probleme? Oder möchte er dem Gastgeber, Narendra Modi, zeigen, wer in Asien den Ton angibt? Diese letzte Erklärung, die im Zusammenhang mit dem Wettstreit der beiden asiatischen Riesen um die Führung des 'Globalen Südens' steht, findet offensichtlich viele Anhänger. Die Rivalität zwischen Peking und Neu-Delhi war bereits beim BRICS-Gipfel Ende August spürbar, den Xi von A bis Z dominierte.“
Kritischer Blick vonnöten
Der Westen sollte seine Augen nicht vor der zunehmend undemokratischen Seite Indiens verschließen, mahnt The Guardian:
„Narendra Modi ist eine autoritäre Figur, die als indischer Premier das Land seit 2014 zunehmend zu einer 'de-facto ethnischen Demokratie' gemacht hat, in der Hindus die nationale Identität definieren und Nicht-Hindus als Bürger zweiter Klasse angesehen werden ... Modis gefährlicher Majoritarismus wird vom Westen allzu leicht übersehen, wie das Hofieren und Händeschütteln beim G20-Gipfel zeigen wird. ... Der Westen glaubt, die Füße stillhalten zu müssen, weil er Indien braucht, um China in Schach zu halten. Aber zu welchem Preis für die Demokratie und die Menschenrechte?“