Ukraine: Ist die Gegenoffensive gescheitert?
Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, sieht sein Land in einem Stillstand auf dem Schlachtfeld gefangen. In The Economist machte er das Fehlen von Kampfflugzeugen und Soldaten dafür verantwortlich. Zwar konterte Präsident Wolodymyr Selenskyj, es gebe keine Pattsituation, aber auch Kommentatoren sehen eine ernste Lage und fragen nach Auswegen.
Der Westen muss sich entscheiden
Die Ukraine wird den Krieg verlieren, wenn sie nicht umfassend vom Westen unterstützt wird, befürchtet Iltalehti:
„Russland, das einen Vernichtungskrieg führt, geht davon aus, dass die Logik der totalen Kriegsführung - ein Konzept, das von den deutschen Nationalsozialisten übernommen wurde - am Ende zu seinen Gunsten ausfallen wird. … Russland hat seine Artillerie ununterbrochen im Einsatz und rechnet damit, dass der Ukraine in ein paar Jahren die Soldaten ausgehen werden. Die Ukraine braucht überlegene Waffen aus dem Westen, moderne Kampfflugzeuge und kontinuierliche Munitionslieferungen für seine Artillerie. Wenn man dies nicht möchte, ist auch das eine Entscheidung. Dafür, dass Putin gewinnt - und Russland seinen Imperialismus fortsetzt.“
Selenskyj braucht eine neue Strategie
Der ukrainische Präsident muss einen Weg aus der Sackgasse finden, urteilt Wprost:
„Selenskyj, der sich zunehmend des Versagens der internationalen Politik bewusst wird, das er selbst mit zu verantworten hat, beginnt, die Schuld für den ausbleibenden militärischen Erfolg dem Westen zuzuschieben, der die Hilfe für die Ukraine zu knapp bemessen habe. Durch diese unbegründeten Anschuldigungen vergrößert sich die Zahl der Gegner der Ukraine, die vor allem in den USA wächst. Zu Selenskyjs Frustration tragen auch die Rückschläge an der Front bei, vor allem der Zusammenbruch der ukrainischen Gegenoffensive in Saporischschja, in die er große Hoffnungen gesetzt hatte. ... Selenskyj muss seine Strategie ändern.“
Mit dem Träumen aufhören
Jutarnji list fragt, wie viele Menschen noch sterben müssen, bevor der Krieg beendet wird:
„Die entscheidende Frage für Selenskyj ist nun, wie er die steigenden Opferzahlen rechtfertigen will. ... Wenn sein Oberbefehlshaber in The Economist die Lage so einschätzt, dass es zu einem Stillstand gekommen ist, den keine Seite durchbrechen kann, dann ist es ziemlicher Zynismus einen großen Sieg zu erwarten, denn dies bedeutet weiteren Tod und Zerstörung, weitere Verwundete, Verstümmelte und Traumatisierte. Es ist eine Sache, von einem großen Sieg zu träumen oder eine politische Karriere auf dieser Rhetorik aufzubauen, aber eine andere, für ein Minimum an existenzieller Sicherheit für seine Bürger zu sorgen.“
Opfer ihres eigenen Erfolgs
Die Offensive war von Anfang an schlecht aufgestellt, stellt Wprost fest:
„Die Ukrainer sind Opfer ihres eigenen Erfolgs in der ersten Phase des Krieges geworden, als eine beispiellose Mobilisierung der Bevölkerung und die Unterstützung der Nato es ermöglichten, die schwerfällige Kriegsmaschinerie Moskaus aufzuhalten und sie sogar aus einigen Gebieten zurückzudrängen. Der Strom der Militärhilfe für die Ukraine begann zu versiegen. Um ihn aufrechtzuerhalten, veranlasste Präsident Selenskyj eine Offensive, deren Sinnhaftigkeit selbst seine Generäle angezweifelt haben sollen. Ohne angemessene Luft- und Artillerieunterstützung war das Ergebnis leicht vorauszusehen: Die Ukrainer würden in schweren Kämpfen ausbluten.“
Ukraine braucht mehr Soldaten
Der Anwalt und Menschenrechtler Masi Nayyem, der vor einem Jahr im Fronteinsatz schwer verwundet wurde, warnt auf seiner Facebook-Seite vor Personalmangel in der ukrainischen Armee:
„Ich habe nichts gegen Kaffeetrinken und friedliches Leben in den Städten. Ich habe immer gesagt, das ist der beste Indikator für die Effizienz der ukrainischen Streitkräfte. Unter einer Bedingung: Müssen die Reihen aufgefüllt werden, eilen junge Männer und Frauen zur Hilfe. Und bis dahin lernen sie und bereiten sich darauf vor. Und wenn schon der Oberkommandierende Saluschnyj öffentlich über Drückeberger spricht, sieht es echt schlecht aus. Es mag jede Menge Fragen an den Staat geben. ... Aber wenn wir nicht gewinnen, ist Schluss mit Fragen, weil es gar keinen Staat geben wird.“
Der Wahlkampf hat begonnen
Tvnet erläutert mögliche Hintergründe von Arestovychs Äußerungen:
„Bereits im Sommer 2022 kündigte er seine Absicht an, für das Amt des Präsidenten der Ukraine zu kandidieren, versprach damals jedoch, dies nur zu tun, wenn Selenskyj nicht für eine zweite Amtszeit kandidiert. Aber jetzt hat er seine Meinung geändert, mehr noch, er hat bereits den Vorwahlkampf begonnen. … Arestovychs Chancen auf die Präsidentschaft sind gering, selbst wenn in naher Zukunft Wahlen stattfinden. … Aber er scheint die Schwachstellen seines Rivalen Selenskyj erkannt zu haben - oder zumindest die Themen, bei denen er versuchen kann, die öffentliche Meinung in seine eigene Richtung zu lenken.“
Der Westen darf nicht nachlassen
Das Patt nutzt vor allem Russland, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Sein Territorium ist vom Krieg fast nicht betroffen, und es hat weitaus größere Ressourcen als die Ukraine. Ändert sich an dieser Lage nichts, kann Russlands Diktator das angegriffene Land langsam ausbluten lassen. Damit würde er das Ziel erreichen, die Ukraine zu zerstören. Um das zu verhindern, darf der Westen gerade jetzt in seiner Unterstützung für die Ukraine nicht nachlassen. Und das nicht nur aus Solidarität, sondern auch aus Eigennutz. Wladimir Putin selbst sagt es regelmäßig: In diesem Krieg geht es um viel mehr als um die Ukraine.“
Schlechte Aussichten
Eesti Päevaleht fürchtet, dass sich die Ukraine auf ein schmerzvolles Nachgeben vorbereitet:
„Die brutale Realität des Zermürbungskriegs könnte den Ukrainern bald harte Entscheidungen abverlangen. Der Kommandeur der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, sagte es kürzlich dem Economist. Er sagte, der Krieg habe das Stadium eines Grabenkriegs erreicht, der an den Ersten Weltkrieg erinnere, wobei derjenige Erfolg habe, der über die größeren Ressourcen verfüge. Und das ist nicht die Ukraine. ... Für uns, die Verbündeten der Ukraine, wäre das ein sehr schlechtes Ergebnis, denn die russische Aggression hat es leider nicht geschafft, dem Westen die Notwendigkeit zu vermitteln, auch die Selbstverteidigung ernst zu nehmen.“
Neue Raketen drehen den Spieß um
Der Militäranalyst Colby Badhwar hält in The Insider die jüngsten Waffenlieferungen zwar nicht für kriegsentscheidend, aber für potentielle Gamechanger:
„Die Lage an der Front wird davon abhängen, wie viele Raketen in welchem Zeitraum an die Ukraine geliefert werden. [Die Kurzstreckenrakete] ATACMS ist keine Waffe, mit der man einen Krieg gewinnen kann, aber sie kann die Spielregeln ändern. Die meiste Zeit des Kriegs bestand die Militärhilfe des Westens darin, auf die Aktionen Russlands zu reagieren. ... Die Lieferungen der Langstrecken-Präzisionsraketen Storm Shadow und SCALP-EG aus Großbritannien und Frankreich und jetzt ATACMS aus den USA haben es der Ukraine ermöglicht, zuvor sichere russische Ziele anzugreifen und die Russen gezwungen, sich an die Lage anzupassen.“