Zukunft der EU: Hat Macron die richtigen Vorschläge?
Sieben Jahre nach seiner Sorbonne-Rede 2017 und fünf Jahre nach seinen zur EU-Wahl 2019 veröffentlichten Thesen zu einem europäischen Neustart hat Emmanuel Macron am Donnerstag erneut an der Pariser Universität geredet. Europa drohe der Tod, sollte es sicherheits- und wirtschaftspolitische Entscheidungen versäumen. Kommentatoren haben kritisch zugehört.
Melodramatisch, aber richtig
Hospodářské noviny kommentiert:
„'Europa ist sterblich', warnt Macron. Er spricht davon, dass die EU wirtschaftlich viel langsamer wächst als die USA oder China, sich ohne amerikanische Hilfe nicht verteidigen und auf diese Hilfe nicht mehr unbedingt vertrauen kann. Europa stehe auch von innen heraus unter Druck, weil Populisten die liberale Demokratie in Frage stellen. Für tschechische Ohren klingt manches davon zu melodramatisch. Einige der von Macron vorgeschlagenen Lösungen sind zudem nicht umsetzbar oder kommen vor allem der französischen Militärindustrie zugute – wie etwa der bevorzugte Kauf militärischer Ausrüstung von europäischen Unternehmen. Aber im Wesentlichen hat Macron Recht: Innerhalb der EU müssen wir mehr gemeinsam tun als bisher. Jedenfalls, wenn wir sicherer und wohlhabender leben wollen.“
Mehr als nur Wahlkampfgetöse
Macrons Horizont geht über die EU-Wahl im Juni hinaus, ist Le Monde überzeugt:
„Wenn auch das Streben nach Einfluss in den Wahldebatten offensichtlich ist – das Präsidentschaftslager bleibt in den Umfragen zur Europawahl weit hinter dem Rassemblement National zurück –, zielt der Blick des Staatschefs doch über dieses Anliegen hinaus. Für ihn geht es darum, so weit wie möglich das zu beeinflussen, was die Staats- und Regierungschefs der EU-27 ihre 'strategische Agenda' für die kommende Legislaturperiode nennen, oder, prosaischer ausgedrückt, das Arbeitsprogramm der nächsten Brüsseler Kommission. Und das unabhängig davon, ob deren Präsidentin Ursula von der Leyen nach den Wahlen im Juni im Amt bleibt oder nicht.“
Frankreichs Staatschef in der Hauptrolle
Macron sieht sich in der Hauptrolle, analysiert La Stampa:
„Die gestrige Rede an der Sorbonne schien sich, anders als die vorige 2017, eher an die europäischen Staats- und Regierungschefs als an die Bürger zu richten. Um sie zu warnen, dass der Status quo keine Option ist: Entweder man ändert sich, oder man stirbt. Aus seiner Rede wird deutlich, wie sehr er danach strebt, selbst die Hauptrolle bei diesem Wandel zu spielen: als Anführer, der den Weg zu einer anderen Handelspolitik, einer Wirtschaft mit verdoppeltem Budget und einem stärkeren Europa der Verteidigung (mit französischer Atomstreitmacht) weist.“
Wäre Berlin doch ähnlich ambitioniert
Zumindest bei der Analyse liegt Macron näher an der Realität als die Bundesregierung, schreibt der Frankreich-Korrespondent des Handelsblatts, Gregor Waschinski:
„[Die will] noch immer nicht wirklich wahrhaben ..., wie sehr in diesem Moment die Zukunft Europas und damit auch die des eigenen Landes auf dem Spiel steht. ... Nicht alle Pläne, die Macron für ein 'Europa der Stärke' vorschweben, sind durchdacht. Eine Reform der europäischen Geldpolitik mit einer Mandatserweiterung der EZB um Wachstums- und Klimaziele würde mehr Probleme als Lösungen schaffen. Doch der Präsident hat die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts klar erkannt – und ist auch gewillt, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Ein vergleichbares Maß an Ambitionen fehlt in Berlin.“
Er ist selbst sein größter Feind
Hinter Macrons Forderung nach mehr europäischer Zusammenarbeit stecken eigene budgetäre Probleme, meint Die Presse:
„Mehr als 20 Milliarden Euro muss Finanzminister Bruno Le Maire binnen zweier Jahre einsparen, die Maastricht-Kriterien werden sonst nicht einzuhalten sein. Vor diesem Hintergrund der französischen Haushaltsnot muss man auch Macrons Forderung verstehen, die Europäische Zentralbank solle nicht nur die Inflation bekämpfen, sondern auch 'ein Wachstumsziel, gar ein Ziel der Dekarbonisierung' erhalten. Budgetfinanzierung durch die Notenbank? Spätestens hier sollten nicht nur bei der Bundesbank die Alarmglocken läuten. Und so zeigt sich einmal mehr: Macron ist der größte Feind seiner eigenen guten Ideen.“
Ohne effiziente Institutionen keine effiziente Politik
Dem Europa-Korrespondenten von Libération, Jean Quatremer, fehlten in der Rede wichtige Aspekte:
„Auffällig ist auch, dass er bei seinen Ausführungen zur EU-Politik zwei wesentliche Dimensionen außer Acht gelassen hat: die bevorstehende Erweiterung, die die EU tiefgreifend verändern wird, und die institutionelle Reform. Ohne effiziente Institutionen, die die von ihm vorgeschlagene Politik umsetzen, wird nichts geschehen... Hier zeigt sich die Grenze von Emmanuel Macrons europäischem Engagement: Er will ein gaullistisches, sprich ein intergouvernementales und vor allem kein föderales Europa.“