Zum Nachbar wird der Feind
Das Friedensprojekt Europa funktioniert, jubelt Delo:
„Für ein Land wie Slowenien – klein, mit einer extrem kurzen Geschichte der Staatlichkeit, mit einer offenen, exportorientierten Wirtschaft und größtenteils unnatürlichen und schlecht zu verteidigenden Grenzen, umgeben von größeren Nachbarn – ist der institutionelle Rahmen der Europäischen Union tatsächlich die einzige Garantie für das langfristige Überleben. Und das liegt gerade daran, dass es sich um ein System handelt, das mit der Idee und Praxis von Imperien auf europäischem Boden unvereinbar ist. Es ermöglicht uns, dass der Vers unserer Hymne 'zum Nachbar wird der Feind' eine banale Realität unseres Alltags ist – in einer Welt, in der dies überall um uns herum immer weniger zutrifft.“
Angst vor der Rückkehr des Nationalismus
Mit der Einbindung der ehemaligen Länder des Ostblocks wollte die EU die Wiederholung eines historischen Phänomens verhindern, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Warum wagte die EU ... den grossen Schritt? Die kurze Antwortet lautet: aus sicherheitspolitischen Gründen. Natürlich spielte das Interesse der wirtschaftlichen Integration eines Raumes, der zuvor an die Wirtschaftssphäre der Sowjetunion angeschlossen war, eine wichtige Rolle. Aber es bestand darüber hinaus die berechtigte Angst, dass der Nationalismus in Osteuropa (ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit) zu Konflikten zwischen und innerhalb der unabhängig gewordenen Staaten führen würde. Wer diese Sorge für überzogen hielt, den belehrten die jugoslawischen Zerfallskriege (1991–1999) eines Besseren.“
Wo stünde Tschechien ohne die EU?
Es genügt, sich an die Zeit vor dem EU-Beitritt zu erinnern, um den Wert dieses Schrittes zu begreifen, meint Hospodářské noviny:
„Wir erinnern uns daran, wie die Finanzbehörden, die Gerichte oder das Kartellamt damals arbeiteten. ... Der Wandel im Geschäftsumfeld und in der Funktionsweise der Behörden war enorm, unabhängig davon, welche Details davon uns passen oder eben nicht. Die Vorstellung, dass nichts davon passiert wäre, dass es hier keine europäischen Bürokraten geben würde, sondern nur unsere eigenen, die aufs Geratewohl nach eigenen Wegen suchen würden, ist erschreckend. ... Und außerdem würden diese Wege sicherlich irgendwo weit nach Osten führen.“
Weiter wachsen – aber Veto-Rechte stutzen
Eesti Päevaleht fordert ein Fortsetzen der Erweiterungspolitik der Union – und parallel mehr politische Integration:
„Es liegt im Interesse der Sicherheit Europas, unseren Nachbarn wieder eine echte Beitrittsperspektive zu eröffnen. Damit dieser Sinneswandel ernst genommen wird, muss sich die EU auch intern anpassen. Es muss viel weniger Bereiche geben, in denen das Veto eines Landes den Fortschritt aller anderen verhindert. Ein weiterer Souveränitätsverzicht mag zwar auf den ersten Blick beängstigend erscheinen, liegt aber im Interesse Estlands. Nur eine flexible und gut funktionierende EU kann (zusammen mit der Nato) das Überleben unseres Landes mit größtmöglicher Sicherheit gewährleisten.“
Mobilität statt Mauern
Freie Fahrt durch Europa ist für Rimvydas Petrauskas, Rektor der Universität Vilnius, die wichtigste Errungenschaft der Osterweiterung, wie er in LRT schreibt:
„Als ich vor 30 Jahren zu einer Studienreise mit dem Bus nach Deutschland fuhr und an der polnischen oder deutschen Grenze quälend lange in Warteschlangen stand, hatte ich keine Ahnung, wie sehr sich unser Leben in relativ kurzer Zeit verändern würde. Die Mauer war zu einer Metapher für unsere Generation geworden und ist in den Jahrzehnten der Unabhängigkeit nach und nach gefallen. Diese Befreiung des Raumes und die Öffnung für ungehinderte Mobilität und Ideenaustausch ist allein schon ein Sieg für die Europäische Union.“
Der Heimatgedanke geht in diesem Bund verloren
Die heutige EU hat wenig mit ihren Wurzeln gemein, bedauert das PiS-nahe Portal wPolityce.pl:
„Das Ausmaß an Infantilität in den hurra-optimistischen Lobeshymnen auf die heutige EU ist frappierend. In ihnen ist kein Platz für kritische Reflexion und eine Vision der tatsächlichen Ausgestaltung eines Europas der Vaterländer. Schon diese Formulierung weckt bei ihren Anhängern starke Vorbehalte. Als noch anstößiger gilt die Beschwörung der Idee, die die Gründer der Montanunion getragen hat. Denn die von Robert Schuman verfolgte Vision entsprang seinem tiefen Glauben, der Philosophie des christlichen Menschenbilds, die die Achtung der Menschenwürde, der Demokratie und der Menschenrechte betonte. Schuman betonte nachdrücklich die Souveränität der Nationalstaaten und ihre eigenständige Entwicklung, um eine Gemeinschaft von Heimatländern zu bilden.“
Orbán wirft Ungarn zurück
Ohne ihre euroskeptische Führung könnten die Ungarn noch mehr von der EU profitieren, meint hvg:
„Jede Aktivität des ungarischen Regierungschefs [Viktor Orbán] zielt darauf ab, EU-Mittel in größtmöglichem Maße abzuzapfen – ohne dass er irgendjemanden mitreden lassen würde, wie er diese Gelder verwendet, bzw. seiner Klientel zufließen lässt. Darauf ist teilweise zurückzuführen, dass die EU-Mittel im regionalen Vergleich wenig effektiv genutzt wurden. Obwohl das BIP und auch die Löhne deutlich gestiegen sind, sind die verpassten Chancen im Vergleich zu den 2004 und später beigetretenen Mitgliedern klar sichtbar. Am deutlichsten zeigt sich dies in den Daten zum Lebensstandard. In dieser Hinsicht sind uns mittlerweile alle EU-Länder außer Bulgarien voraus.“
Österreich hat profitiert
Die EU-Osterweiterung war für den österreichischen Arbeitsmarkt ein Segen, meint der Kurier:
„Neben den neuen EU-Staaten hat vor allem auch Österreich von der Osterweiterung profitiert, die anfangs mit großer Skepsis ... gesehen wurde. Nicht nur, weil sich die heimischen Banken sehr schnell in Richtung Osten orientierten und dort bald den Platzhirschenposten einnahmen. Sondern weil die Osteuropäer ... auf den österreichischen Arbeitsmarkt stürmten und mitnichten die Arbeitslosigkeit hierzulande exorbitant in die Höhe schraubten, sondern auf mittlere Sicht einen Arbeitskräftebedarf deckten, den die Österreicher nicht decken konnten/wollten.“
Heute sind wir der Westen
Lidové noviny bilanziert:
„Eine Bestandsaufnahme dieser zwanzig Jahre ist überraschend einfach. Der große Erfolg der tschechischen EU-Mitgliedschaft ist durch all das gekennzeichnet, was mit Freiheit zusammenhängt. Konkret geht es um den freien Personen-, Waren- und Kapitalverkehr. Niemand vermisst die früheren Passkontrollen. Die Älteren erinnern sich vielleicht daran, dass wir Anfang der 1990er Jahre vor Reisen in die meisten westlichen Länder, einschließlich des benachbarten Deutschland, Einreisevisa beantragen mussten. Jetzt sind wir selbst der Westen für die Bürger osteuropäischer Länder.“
Zusammen stärker
Estland profitiert von der EU, aber auch umgekehrt, schreibt Postimees:
„Die Europäische Union ist heute Alltag in unserem Leben – vieles wurde und wird mit Euro-Geldern gebaut, unsere Schüler, Studenten und Fachleute gehen nach Europa, um sich weiterzuentwickeln. ... In 20 Jahren hat Estland rund 20 Milliarden Euro von der EU erhalten. Eine ganze Generation ist ausschließlich in der Europäischen Union aufgewachsen. Zu den bemerkenswertesten Initiativen Estlands in der Europäischen Union gehören der Aufbau des digitalen Binnenmarktes und die Einführung einer europäischen digitalen Identität, die Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten und natürlich die unermüdliche Arbeit für die Ukraine.“
Gemeinsame Identität entwickelt
Diena zieht über die 20 Jahre seit dem EU-Beitritt Bilanz:
„Seit dem 1. Mai 2004 haben wir einen langen Weg zurückgelegt, bei dem die Illusionen über einen schnellen und allgemeinen Anstieg des Wohlstands der lettischen Gesellschaft verloren gegangen sind. Auch die Illusion, dass die aktuellen Angelegenheiten unseres Landes in Brüssel und Straßburg als Prioritäten der EU wahrgenommen werden, ist verloren gegangen. ... Die damals getroffene Entscheidung, der EU beizutreten, hat jedoch zweifellos dazu geführt, dass sich die Identität der lettischen Nation im einheitlichen Rhythmus mit der europäischen Identität entwickelt hat und unser Land nicht in der Mitte zwischen Ost und West steckengeblieben ist.“
Einheit heißt nicht Uniformität
In Magyar Nemzet begründet Ungarns Europaminister János Bóka den Kurs der Regierung Orbán in der EU-Politik:
„Europa kann nur in der Vielfalt geeint werden. Unsere Mitgliedschaft in der EU verpflichtet uns nicht zur Homogenität, sondern zur Zusammenarbeit. ... Die Meinungshegemonie, die wir heutzutage in der EU erleben, ist auch ein Krisenphänomen, dem die Kultur der Toleranz und Konsensbildung entgegengesetzt werden muss. Die wahren Feinde Europas sind nicht diejenigen, die als Antwort auf Misserfolge und Krisen alternative europäische Lösungen anbieten. Die Feinde Europas sind diejenigen, die die politische Debatte niederdrücken und politischen und finanziellen Druck ausüben, um Mitgliedstaaten, die einen anderen Standpunkt vertreten, zur Anpassung zu zwingen.“
Zweierlei Maß
Die Presse sieht die Vorbehalte gegenüber den osteuropäischen Ländern noch nicht überwunden:
„Die Vorurteile schlummern immer noch unter der Oberfläche, wie die (inhaltlich berechtigte) Kritik an der illiberalen Wende in Budapest und Warschau bewiesen hat – die bei ähnlichen Entwicklungen in Rom, Den Haag oder Kopenhagen deutlich weniger vorwurfsvoll vorgetragen wurde und wird. Und ja, was die institutionelle Praxis anbelangt, etwa bei der Besetzung der Posten in der EU, sind Mittelosteuropäer nach wie vor unterrepräsentiert.“