Frankreich: Links organisiert sich gegen rechts
Angesichts des fulminanten Wahlsiegs der rechtsnationalistischen Rassemblement National (RN) bei der Europawahl hat sich in Frankreich ein breites Bündnis aus Parteien links der Mitte zusammengeschlossen, das der RN bei der vorgezogenen Parlamentswahl die Stirn bieten will. Der Nouveau Front populaire will unter anderem das Rentenalter herabsetzen und den Mindestlohn erhöhen. Kommentatoren sind gespalten.
Schockwelle für Europa steht bevor
La Libre Belgique ist besorgt:
„Wenn es bei den Parlamentswahlen nicht zu einem republikanischen Aufbäumen kommt, was derzeit unwahrscheinlich ist, könnte sich für Macron das Szenario einer 'Cohabitation' aufdrängen. ... Damit würde [der Premiers-Amtssitz] Matignon für einen der beiden radikalen Blöcke geöffnet: Marine Le Pens RN oder die 'Nouveau Front populaire'. … Zwei Kräfte, die über ihre ideologischen Differenzen hinaus gemeinsam haben, dass sie sich auf inkohärente, demagogische und vor allem für einen Staat, in dem die öffentlichen Ausgaben und das Steuerniveau bereits Rekordhöhen erreicht haben, unfinanzierbare Wirtschaftsprogramme stützen. Das französische Sozialmodell ist in Gefahr, die Schockwelle für Europa unvermeidbar.“
Jetzt heißt es, Prioritäten zu setzen
Raphaël Glucksmann verteidigt in Le Monde den Beitritt seiner ökologisch-sozialdemokratischen Place Publique zum Linksbündnis:
„Ich verstehe das Unwohlsein vieler Wähler, die am 9. Juni für den sozialdemokratischen, ökologischen und pro-europäischen Weg gestimmt haben, den ich während des Europawahlkampfs aufgezeigt habe. ... Aber wenn die extreme Rechte an der Schwelle zur Macht steht, wird es zur Pflicht, die Gefahren zu hierarchisieren. Und wer kann ernsthaft glauben, dass die größte Bedrohung für die Republik von einer gespaltenen France insoumise ausgeht, das in einer breiten Wahlkoalition aufgeht, über die es keine Kontrolle hat, wenn der Rassemblement National in weniger als drei Wochen die absolute Mehrheit erobern kann? ... Nur die Linke kann der Damm sein, den die französische Demokratie so dringend braucht.“
Eine Zitterpartie für Brüssel
Die bevorstehenden Wahlen in Frankreich könnten die EU ins Schleudern bringen, befürchtet Le Quotidien:
„Selbst wenn Emmanuel Macron, unabhängig vom Ergebnis, Staatspräsident bleibt, könnten für die EU unruhige Zeiten anbrechen. Wenn eines ihrer Gründungsländer mit großer demografischer und wirtschaftlicher Bedeutung anfängt, fiebrig zu werden, bekommt der gesamte Kontinent Schüttelfrost. Zumal die EU in diesem französischen Wahlkampf auch sehr kritisiert wird. ... Wir sind alle wirtschaftlich miteinander verbunden und haben alle eine gemeinsame Währung. Die Ausrutscher der einen können die anderen ins Schleudern bringen. Und wenn wir uns bestimmte Wahlprogramme genau ansehen, haben wir allen Grund dazu, ins Schwitzen zu kommen.“
Eine fast verrückte Hoffnung
Libération sieht in dem Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen eine Chance für mehr Gleichheit:
„Die Express-Entstehung der neuen Volksfront, eines Wahlkartells, das die einzige Antwort zu sein scheint, die dem Moment gerecht wird, während die extreme Rechte konkreter denn je vor den Toren der Macht steht, hat bei der Linken eine Hoffnung geweckt. ... Entstanden ist ein Elan, von dem niemand sagen kann, wie stark er sich letztlich an den Wahlurnen zeigen wird, und eine fast ein wenig verrückte Hoffnung. Denn das Programm, das der Nouveau Front populaire auf den Tisch gelegt hat, hat etwas sehr Erstrebenswertes inne. Einen weitreichenden Bruch, der die Frage der Gleichheit wieder in den Mittelpunkt stellt. Und so beginnt man zu träumen, sicherlich ein wenig mehr, als man sollte.“
Mäßigung scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein
La Vanguardia ist besorgt:
„Frankreichs Image wird international weiterhin mit dem Macronismus in Verbindung gebracht werden. Aber je nach Ergebnis wird Frankreichs Innenpolitik ein weiterer Dorn im Auge der EU sein. Nur Macron ist ein Botschafter der EU, die als ein Kompendium des permanenten Gleichgewichts zwischen der Rechten, der traditionellen Linken und den Liberalen verstanden wird. Die beiden anderen, mit mehr Vehemenz der Rassemblement National, mit mehr Kontrolle und Gleichgewicht der Front Populaire, spielen ein anderes Spiel: Darauf lässt man sich ein, wenn man davon überzeugt ist, dass Mäßigung nicht mehr zeitgemäß ist. Schlechte Zeiten, denn es sind immer schlechte Zeiten, wenn man auf Fronten zurückgreifen muss.“
Bündnis voller Widersprüche
Bei den Linken spielt sich Psychodrama ab, spottet Corriere della Sera:
„Die Linken haben die Volksfront wiederbelebt. Ein Bündnis, das 1936 die Wahlen gewann, eine historische Reform durchführte und fast sofort die Regierung verlor. … Nun, um zu bestätigen, dass sich die Tragödie als Farce wiederholt, taufen Kommunisten, Sozialisten und die Hardliner von La France Insoumise, sprich Jean-Luc Mélenchon, ihr Bündnis [Nouveau] 'Front Populaire'. Und sie hadern mit Raphaël Glucksmann, der die sozialistische Liste bei den Europawahlen gerade auf 14 Prozent gebracht hat [und seine Unterstützung an Bedingungen geknüpft hatte]. ... Er ist Jude, der Enkel von Flüchtlingen, die den Vernichtungslagern entkommen sind [und steht einigen Positionen der Front zum Nahost-Konflikt kritisch gegenüber].“